“Unterm Rad”, einer frühen Erzählung von Hermann Hesse ist es zu verdanken, dass ich ein wenn auch gespaltener Fan von Hesse bin. Die Novelle handelt von Hans Giebenrath, einem begabten Jugendlichen, der an den Ansprüchen der Pädagogik an ihn schließlich endgültig scheitert. Natürlich ist hier auch eine Abrechnung Hesses mit der preußischen Internatskultur zu finden. Doch diese lokale Interpretation hat den globalen Gedanken, dass es eine DER Urängste des Menschen ist, unter die Räder zu kommen: Ob nun die Räder der Umstände, oder der eigenen Ansprüche, die Gefahr einer vollständigen Katastrophe begleitet den Menschen bereits bei den ersten (erfolgreichen?) Schritten einer schulischen Laufbahn.
Ich glaube “Unterm Rad” liefert einige gute Analysen dafür, dass z.B. auch wohlwollende Nächste, den schaurigen, von Beginn vorhandenen Prozess des Untergehens nicht wahrnehmen können: Hans, als einziger aus seiner Stadt, erreicht die Teilnahme an einem Landesexamen in Stuttgart. Entsprechend bekommt er zwar einerseits Extraunterricht, aber auch Angelverbot und eine Einschränkung des Umgangs mit seinen Freunden. Jeder blickte auf eine zukünftige herrliche Karriere von Hans, aber nicht auf die verkümmernde Seele des Jungen. Lediglich der Schuster und pietistische Stundenbruder Flaig sieht mehr, gibt andere Ratschläge, scheitert schließlich aber auch daran, den “Jungen zu retten” (Vergleiche dafür auch das ausführliche Zitat am Ende des Artikels).
Natürlich zeigt Hesse auch den Gegentyp von Hans auf, in Form von Hermann Heilner, dem Hans auf dem Internat im Kloster Maulbronn begegnet, nachdem er das Examen in Stuttgart überraschend gut bestanden hat. Heilner ist wohl intelligent und macht sich nichts aus der Schule und auch nichts daraus, dass er irgendwann, nach einer unerlaubten Flucht, des Internats verwiesen wird. Doch hier ist ja nicht wirklich eine Lösung für das “Ausharren im Räderwerk” zu finden, sondern eher ein Entzug, eine Flucht aus dieser Räderung.
Neulich las ich in der Zeitung einen Artikel über eine Krankenpflegerin, die nun einen Prozess wegen Totschlags auf dem Hals hat, weil sie Corona-Positiv trotzdem zur Arbeit gegangen ist und sich nun verantworten muss, eine alte Dame, die sie wohl angesteckt hat, auf diese Weise “getötet zu haben”. Egal, wie diese Sache ausgehen sollte, ist diese Frau so plötzlich unter ein zerstörerisches Räderwerk gekommen.
Ähnliches las ich vor kurzem über die Wormser Prozesse : In den Neunzigern standen 25 Personen wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs jahrelang vor Gericht, einzig wegen einer Auswertung einer Kinderpsychologien, die die Aussagen der Kinder vor allem durch Suggestion bewirkt hat. Obwohl sich die meisten Vorwürfe nicht bewahrheitet haben und der Richter sich zum Ende des Prozesses bei den Beschuldigten entschuldigt hat, wurden ganze Existenzen zerstört. Viele verloren ihr Ansehen im Ort, einige griffen zum Selbstmord, Ehen gingen in Bruche, mehrere Kinder, die den verdächtigten Eltern weggenommen wurden, wurden in den Heimen wirklich Opfer von Kindesmissbrauch…
Worauf ich hinaus will ist, dass das “Unter-die-Räder-kommen” wirklich jedem passieren kann. Heute noch “gesund und rot”, kann man morgen fürchterlich vom “Schicksal gerädert” werden. Nicht dass ich an Schicksal glaube, sondern an die Führung eines Gottes, der immer gut ist. Diese Antwort kennt Hesse zugegebenermaßen nicht: Dass selbst im fürchterlichsten Räderwerk der Zerstörung Gott zu finden ist, ist ihm, trotz seiner frommen Erziehung nicht bekannt. Aber was wir trotzdem von Hesse lernen können ist, dass wir das Potential der fürchterlichen Zerstörungsmaschinerien, die, sei es getrieben von Umständen, von den Meinungen der Menge oder auch von unseren eigenen Ansprüchen an uns selbst,gestaret werden, erkennen und benennen sollen. In der gegenwärtigen Kultur gibt es keinen Platz mehr für jemanden, der scheitert! Wir sind zu sehr davon überzeugt, dass “alles schon gut gehen wird, wenn wir uns redlich halten”. Ich halte Hesses “Unterm Rad” hier für eine gute und notwendige Kur.
Zum Schluss noch ein Dialog zwischen Hans Giebenrath und dem Pietisten Flaig:
“Als er gegen Mittag heimkam, hatte er wieder Kopfweh. Auch die Augen taten ihm weh, auf der Waldsteig hatte die Sonne so heillos geblendet. Den halben Nachmittag saß er verdrossen im Haus herum, erst beim Baden wurde er wieder frisch. Es war jetzt Zeit, zum Stadtpfarrer zu gehen.
Unterwegs sah ihn der Schuster Flaig, der am Fenster seiner Werkstatt auf dem Dreibein saß, und rief ihn herein.
„Wohin, mein Sohn? Man sieht dich ja gar nimmer?“
„Jetzt muß ich zum Stadtpfarrer.“
„Immer noch? Das Examen ist doch vorbei.“
„Ja, jetzt kommt was andres dran. Neues Testament. Nämlich das Neue Testament ist ja griechisch geschrieben, aber wieder in einem ganz andern Griechisch, als was ich gelernt hab’. Das soll ich jetzt lernen.“
Der Schuster schob die Mütze weit ins Genick und zog seine große Grüblerstirn zu dicken Falten zusammen. Er seufzte schwer.
„Hans,“ sagte er leise, „ich will dir was sagen. Bis jetzt hab’ ich mich still gehalten, von wegen dem Examen, aber jetzt muß ich dich mahnen. Du mußt nämlich wissen, daß der Stadtpfarrer ein Ungläubiger ist. Er wird dir sagen und vormachen, die heiligen Schriften seien falsch und verlogen, und wenn du mit ihm das Neue Testament gelesen hast, dann hast du selber deinen Glauben verloren und weißt nicht wie.“
„Aber, Herr Flaig, es handelt sich ja bloß ums Griechische. Im Seminar muß ich’s ja sowieso lernen.“
„So sagst du. Es ist aber zweierlei, ob du die Bibel bei frommen und gewissenhaften Lehrern studieren lernst oder bei einem, der nicht mehr an den lieben Gott glaubt.“
„Ja, das weiß man doch nicht, ob er wirklich nicht an ihn glaubt.“
„Doch, Hans, man weiß es leider.“
„Aber was soll ich machen? Ich hab’ nun schon mit ihm ausgemacht, daß ich komme.“
„Dann mußt du auch kommen, das versteht sich. Aber lieber nimmer oft. Und wenn er solche Sachen über die Bibel sagt, sie sei Menschenwerk und sei verlogen und nicht vom heiligen Geist eingegeben, dann kommst du zu mir, und wir reden darüber. Willst du?“
„Ja, Herr Flaig. Es wird aber sicher nicht so schlimm sein.“
„Du wirst sehen; denk’ an mich!“
Der Stadtpfarrer war noch nicht zu Hause, und Hans mußte in der Studierstube auf ihn warten. Während er die goldenen Büchertitel betrachtete, gaben ihm die Reden des Schuhmachermeisters zu denken. Derartige Äußerungen über den Stadtpfarrer und die neumodischen Geistlichen überhaupt hatte er schon öfters gehört. Doch fühlte er jetzt zum erstenmal mit Spannung und Neugierde sich selber in diese Dinge hineingezogen. So wichtig und schrecklich wie dem Schuster waren sie ihm nicht, vielmehr witterte er hier die Möglichkeit, hinter alte, große Geheimnisse zu dringen. In den früheren Schülerjahren hatten ihn die Fragen nach Gottes Allgegenwart, nach dem Verbleib der Seelen, nach Teufel und Hölle hie und da zu phantastischen Grübeleien erregt, doch war alles das in den letzten strengen und fleißigen Jahren eingeschlafen, und sein schulmäßiger Christenglaube war nur in Gesprächen mit dem Schuhmacher gelegentlich zu einigem persönlichen Leben aufgewacht. Er mußte lächeln, wenn er jenen mit dem Stadtpfarrer verglich. Des Schusters herbe, in bitteren Jahren erworbene Festigkeit konnte der Knabe nicht verstehen und im übrigen war Flaig ein zwar gescheiter, aber schlichter und einseitiger Mensch, von vielen wegen seiner Pietisterei verhöhnt. In den Versammlungen der Stundenbrüder trat er als strenger brüderlicher Richter und als ein gewaltiger Ausleger der Heiligen Schrift auf, hielt auch in den Dörfern herum seine Erbauungsstunden, sonst aber war er eben ein kleiner Handwerksmann und beschränkt wie alle andern. Der Stadtpfarrer hingegen war nicht nur ein gewandter, wohlredender Mann und Prediger, sondern außerdem ein fleißiger und strenger Gelehrter. Hans schaute mit Ehrfurcht an den Bücherschäften hinauf.