Lyndal Roper ist eine australische Historikerin, die in Großbritannien lehrt. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die deutsche Kultur-, Religions- und Sozialgeschichte der frühen Neuzeit mit besonderer Hinsicht auf Geschlechterrollen, Körpergeschichte, Sexualität und Hexenverfolgung. (aus Wikipedia). Ich las ihre Luther-Biographie und war sehr angetan von der Präzision und Tiefgründigkeit der Darstellung angetan. Somit war ich dankbar für die Möglichkeit des Interviews. Roper veröffentlichte 2017 eine tiefgründige Biographie über die komplexe Persönlichkeit Luthers: Martin Luther – Renegade and Prophet (wörtlich: Abtrünniger und Prophet). Roper nahm sich Zeit um auf meine Fragen einzugehen.
S.P.: Prof. Roper, viele Ihrer Bücher handeln über Hexen und ihre Verfolgung. Gibt es eine echte Verbindung zwischen Hexen und Luther?
L.R.: Ich empfand es als sehr erfrischend an Luther zu arbeiten, nach dem ich nun so lange so viel Zeit in Hexen und ihre Verfolgung investiert habe. Natürlich glaubte Luther daran, dass Hexen wirklich existierten, jedoch besaß er keine “Hexen-Jäger”- Mentalität. Wenn er krank war und an Kopfschmerzen oder Verstopfung litt, gab er nicht den Hexen die Schuld, sondern dem Teufel. Tatsächlich bestand er darauf, dass diese Attacken beweisen, dass er auf Christi Seite steht, denn er war würdig von Satan angegriffen zu werden. Ich empfand diese robuste Gewissheit als Erlösung, nachdem ich jahrelang an Hexenjägern gearbeitet hatte, die entschlossen waren, Frauen und Männer zu foltern und zu verhören, von denen sie glaubten, dass sie ihnen Schaden zufügen würden.
Wenn man als Historikerin an einem Hexenprozess arbeitet, hat man nur die Aufzeichnungen des Verhörs. Die angeklagte Person nimmt man dann nur für einen einzigen Moment der Zeit auf. Keiner weiß, wie sie wirklich waren. Bei Luther jedoch, konnte ich seinem ganzen Leben folgen, ich konnte sehen, was andere über ihn schrieben, ich konnte seine eigene Schriften lesen, seine Gespräche zu Tisch und sein Interagieren mit Anderen durch seine Briefe. Und ich wusste auch, wie er aussieht, denn Cranachs Werkstatt hinterließ eine ganz beeindruckende Reihe an Bildern.
S.P.: Sie zitieren ausführlich aus Luthers Briefen? Haben Sie alle seine Briefe gelesen?
L.R.: Ja, ich habe sie alle gelesen, und es war eine jener Erfahrungen in meinem professionellen Leben, welche ich am meisten genoss. Ich las einige jeden Tag vor den Vorlesungen in einem Café mit einer Tasse Kaffee und es dauerte eine ganze Dekade. Ich gebrauche diese jedoch nicht, um die “Fakten” zu etablieren, wie viele Historiker vor mir taten (und dies hervorragend). Ich las sie, um zu erkennen, was sie mir über Luther als Person sagen: Warum schrieb Luther diesen einen bestimmten Brief? Was wollte er erreichen? Was sagte er NICHT? Wie entspinnt er die Dinge? Welche Begriffe/Wörter verwendet er regelmäßig? Wie ist seine Beziehung zu seinem Korrespondenten? Ich wurde zunehmend interessiert an den Briefen als materielle Objekte und an der Handschrift Luthers und besuchte eine ganze Anzahl von Bibliotheken um die Originale zu sehen. Luther scheint immer genau gewusst zu haben, wie viel Papier er brauchen wird; Seine Handschrift ist überraschend gleichmäßig.
S.P.: Wie viele Biographien über Luther haben Sie referenziert? Welche davon war die Beste?
L.R.: Es gibt sehr viele hervorragende Biographien, und biographische Schriften über Luther gab es bereits sehr früh. Ironisch dabei ist die Tatsache, dass die erste vollständige Biographie dabei von einem seiner größten Widersacher, Johannes Cochlaeus stammt, der sein ganzes Leben damit verbrachte Luthers Fehler zu widerlegen. Cochlaeus war ein scharfer Beobachter und wie viele Neurotiker hatte er exzellente psychologische Einsichten zu Luther. Heinz Schillings großartige Biographie ist die erste eines Modernen Historikers, die den politischen Kontext ernst nimmt; Martin Brechts drei-bändiger Klassiker wird immer eine wichtige Quelle bleiben. Jedoch ist die Biographie, die mich am meisten beeinflusste, die exzellente Biographie von Heiko Oberman, die ich als Vorlesung hören konnte, als ich nach Tübingen kam, um bei ihm zu studieren. Mit Bedacht vermeidet er die etablierte Erzählung über Luthers Leben und folgt keiner chronologischen Darstellung. Es ist ein sehr persönliches, beinahe andächtiges Werk, in dem ein in die spätmittelalterliche Theologie eingetauchter holländischer Calvinist mit dem deutschen Luther ringt.
S.P.: Haben zeitgenössische Protestanten noch eine gemeinsame Schnittmenge mit Luther und den Reformatoren?
L.R.: Ich denke, die Moderne lutherische Kirche besitzt nicht mehr Luthers Anti-Semitismus oder seinen Hass auf die katholische Kirche. Auch nicht seine eingeschränkte Sicht auf die religiöse und gesellschaftliche Rolle der Frau. Ich denke wir müssen über diese Eigenschaften Luthers und der anderen Reformatoren ehrlich sein, so war ich sehr beeindruckt wie offen und direkt, Historiker wie Thomas Kaufmann damit umgehen.
Es gibt aber auch Verluste. Ich denke wir verstehen nicht mehr, wie wichtig die Lehre für Luther war, dass Christus wirklich leibhaftig anwesend im Bort und Wein der Kommunion ist. Und Luthers – für uns- schockierende Offenheit über körperliche Prozesse und seine positive Haltung gegenüber Sex, wurden ebenfalls vergessen. Luther machte nicht die strenge Unterscheidung zwischen Fleisch und Geist, die so tief im christlichen Denken ist, und ich denke, allein das, macht ihn bereits zu einem lesenswerten Denker
S.P.: Der Größte Unterschied zu den zwei Biographien Luthers die ich bisher gelesen habe (R. Friedenthal und H. Fausel) ist eine deutliche Betonung der “Vater”-Konflikte Luthers: Angefangen bei seinem leiblichen Vater über den Papst bis hin zu Gott: Alle waren mächtige und strenge Väter! Liegt der Reformation nur ein psychologischer Konflikt mit der Autorität zu Grunde?
L.R.: Auf keine Fall. Als Biografin hatte ich hier meine Schwierigkeiten. Man kann Luthers Beziehung zu seinem Vater oder seiner Mutter nicht ignorieren, denn diese sind deutlich mit seiner Haltung gegenüber Autoritäten aller Art verknüpft – wie könnte dies auch anders sein, wenn Autorität in väterlicher Form verstanden wurde und Luther persönlich ein augustinischer “Bruder” war? Bespricht man das alles, kann man leicht als einer karikiert werden, der Luther in kruden Freudschen Begriffen interpretiert, der an einem “Vater-Konflikt” leidet. Dies wäre einfach nicht interessant! Somit versuchte ich über die Beziehung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern zu schreiben und so viel über seine Freundschaften und Feindschaften wie über seine Kindheit.
S.P.: Was würden Sie Luther fragen, wenn Sie ihn treffen könnten?
L.R.: Ich denke ich würde ihn über Karlstadt befragen, denn es war das Ende der Freundschaft mit diesem Mann, -der ihm seine Doktorwürde verlieh und einer seiner ersten und entschiedensten Unterstützer war- , die den Riss in der Reformation entzündete , der zwischen den Sakramentariern, die die Realpräsenz leugnen und Lutheranern entstand. Und folglich später zwischen Lutheranern und Calvinisten. Ich würde gerne wissen, wann der Bruch genau stattfand und warum Luther dennoch Karlstadt in den Monaten nach dem Bauernkrieg im ehemaligen Kloster beherbergte, welches er nun bewohnte, als Luther gerade frisch verheiratet war und Karlstadt um sein Leben bangte. Aber ich würde keine spannende Antwort darauf erwarten. Eine zentrale Herausforderung eines Luther-Biographen ist, dass Luther sich in den Geschichten über sein Leben wiederholt, manchmal Wort für Wort, so dass seine Erinnerung in Stein gemeißelt ist. Um diesen Mann zu verstehen, musst du hinter die “offizielle Erzählung” gelangen – Und dann kann man eine Begegnung mit einem Mann haben, der ein bemerkenswerter Theologe, ein kreativer Denker ist, ein Mann mit einem wunderbar anarchischen Sinn für Humor und außergewöhnlichem Mut.
S.P.: Vielen Dank für das Gespräch und den Einblick in ihre Arbeit!
Übrigens, von Lyndal Roper erscheint in Kürze ein weiteres Werk über Luther. Ich halte euch auf dem Laufenden.
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Der Konflikt Luthers begann ja bereits als er unfreiwillig Mönch wurde. Ein Leben unter äußerem Druck kann zu nichts Gutem führen. Vom Druck Mönch zu sein, befreite er sich zwar, aber mit seiner falsch verstandenen Gnade trug er erheblich zur Banalisierung des Christentums bei:
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