Wir beenden heute den ersten Teil der Leserunde zu dem Buch Lit! A Christian Guide To Reading Books und damit auch den ersten Teil des Buches: Eine Theologie der Bücher und des Lesens. Nach Weihnachten habe ich geplant, die Serie fortzusetzen. Nähere Infos folgen im neuen Jahr.
Kapitel 6 hat die geheimnisvolle Überschrift: Der Gott, der Drachen ermordet. Die reinigende Kraft der christlichen Vorstellungskraft / Phantasie. Beginnen wir mit dem “weihnachtlichen” Part des Kapitels und lesen einen Abschnitt aus dem 12. Kapitel der Offenbarung des Johannes:
Und ein großes Zeichen erschien im Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Wehen und Schmerzen der Geburt. Und es erschien ein anderes Zeichen im Himmel: siehe, ein großer, feuerroter Drache, der hatte sieben Köpfe und zehn Hörner und auf seinen Köpfen sieben Kronen; und sein Schwanz zog den dritten Teil der Sterne des Himmels nach sich und warf sie auf die Erde. Und der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte, um ihr Kind zu verschlingen, wenn sie geboren hätte. Und sie gebar einen Sohn, einen männlichen, der alle Heidenvölker mit eisernem Stab weiden wird; und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron. Und die Frau floh in die Wüste, wo sie einen von Gott bereiteten Ort hat, damit man sie dort 1 260 Tage lang ernähre. (Vers 1-6)
Eine gehörige Portion Vorstellungskraft gehört dazu, sich diese Szene vorzustellen und sie bildlich einzufangen. Diese Beschreibung enthält viel mehr als nur einen Teil der Weihnachtsgeschichte. Das Kind, das geboren wird, ist Jesus. Der Drache mit sieben Köpfen und zehn Hörnern, der es verschlingen möchte, ist König Herodes der Große. Doch die Frau, von der hier die Rede ist, ist nicht Maria. “Die Szene ist grotesk.” Doch warum redet Gott zu seiner Gemeinde mit solchen Bildern? Was ist seine Absicht?
Tony Reinkes Argumentation ist folgende:
1. Gott hat eine enorme Vorstellungskraft
Bevor Gott die Welt schuf, hatte er eine Idee, eine Vorstellung von dem was er schaffen würde und von dem Verlauf der gesamten Weltgeschichte. Uns Menschen fällt es oft schwer, sich ein Haus vorzustellen, das noch nicht gebaut ist. Wir brauchen ein 3D Modell. Gott konnte sich ohne jegliche Hilfsmittel ein winzig kleines Atom und einige tausend Meter hohe Gebirge vorstellen. Er konnte sich die Konzeption des Auges vorstellen und auch ein riesiges Meer. Und das alles, ohne dass es vorher auch nur etwas Ähnliches gab.
2. Gott gab uns die Vorstellungskraft.
Wir können uns etwas vorstellen, weil Gott unser Schöpfer auch eine Vorstellungskraft besitzt. Und mit unserer Vorstellungskraft können wir jetzt ewige Wirklichkeiten “sehen” (2Kor 4,18). Diese göttliche Vorstellungskraft, die Befähigung, das Unsichtbare zu sehen, ist eine von Gott gegebene Fähigkeit zum geistlichen Nutzen.
Doch welchen Nutzen haben wir?
3. Das Wort Gottes mit Hilfe der Vorstellungskraft beherzigen.
Tony Reinke führt zwei Beispiele aus der Offenbarung an, die zum Verständnis eine gute Portion Vorstellungsvermögen abverlangen: Offb 4-5 und Offb 12. In diesen Kapiteln werden Dinge beschrieben, die wenig mit unserer realen Welt zu tun haben. Gott benutzt Bilder, die uns so völlig fremd erscheinen. Warum tut Gott das?
Gott möchte durch das Buch der Offenbarung, dass wir mit den Augen der Vorstellungskraft die tieferen und unsichtbar wirkenden Kräfte “sehen”. Drachen sind wunderbar dafür geeignet. […] Indem Gott Fantasy und unsere Vorstellungskraft benutzt, kann er Kräfte, Gemeinschaften und Kämpfe offenbaren, wie es einfache Worte nicht tun könnten.
Das ist der eine Nutzen. Zum anderen sollen uns diese Bilder in der Bibel auch helfen, Wahrheiten zu beherzigen, sie zu verinnerlichen, damit sie unvergesslich bleiben. Mit Hilfe der Vorstellungskraft werde also Wahrheiten in unser Gedächtnis eingebrannt, die ein Ziel haben – unsere Heiligung. Reinke fasst dieses Ziel mit zwei Worten zusammen: Defibrillation durch Imagination. Durch starke Bilder soll unser Streben nach Heiligung wieder hergestellt werden. Wirksame Mittel gegen Trägheit und Lauheit im Glaubensleben sind Bilder, die unsere Vorstellungskraft bemühen und uns wachrütteln.
So habe ich über die Passagen in der Offenbarung noch nie nachgedacht. Und eines werde ich in den nächsten Tagen tun. Ich werde wieder die Offenbarung durchlesen. Doch welche praktischen Auswirkungen hat dieses alles auf die Bücher, die wir neben der Bibel lesen?
4. Vorstellungskraft entwickeln
Im letzten Abschnitt des Kapitels reflektiert Tony Reinke seine früheren Lesegewohnheiten. Lange Zeit las er nur Fachbücher, deren Argumentation einer leicht nachvollziehbaren Logik folgte. Erst als er auf den Geschmack von Fantasy und fantasievoller Literatur kam, wie z.B. Die Elias und Die Odyssee, Lewis’ Chroniken von Narnia und Tolkiens Herr der Ringe, las er auch mit mehr Interesse die Offenbarung des Johannes.
Während sich mein Vorstellungsvermögen entwickelte, stellte ich fest, dass ich die Offenbarung plötzlich viel geduldiger las, und ich ließ es zu, dass die Bilder sich in meinem Gedächtnis entfalteten, bis ich einen starken geistlichen Schock durch ihre beabsichtigte Kraft fühlte.
Das Kapitel endet mit der These: “Fantasievolle Literatur – die Literatur also, die uns einlädt, Dinge in unserer Phantasie zu sehen, die wir mit unseren Augen nicht wahrnehmen können – ist ein wichtiger Teil eines christlichen literarischen Speiseplanes.” Wenn das wahr ist, dann habe ich mich bisher nur sehr armselig ernährt – mit der Pilgerreise von John Bunyan.
Charles H. Spurgeon
Meistert die Bücher, die ihr habt. Lest sie gründlich. Badet in ihnen, bis sie euch durchtränken. Lest sie und lest sie nochmals, kaut sie durch und verdaut sie. Lasst sie einen Teil eurer selbst werden. Lest ein gutes Buch einige Male, macht Notizen und eine Gliederung davon. Ein Student wird bemerken, dass seine geistige Konstitution von einem Buch, das er gründlich durchgearbeitet hat, mehr Gewinn hat als von 20 Büchern, die er nur überflogen hat. Manche Leute sind nicht fähig zu denken, weil sie die Überlegung ausschalten, um viel lesen zu können. Beim Lesen soll euer Motto sein: Viel, nicht vielerlei.
[aus: Oswald Sanders, Verantwortung, Leitung, Dienst, Bundesverlag, Brockhaus, JmeM, S.67]