Die Problemstellung ist einfach: Offensichtlich schrieb der Bischof Athanasius 367 einen Osterbrief, in welchem er die 27 Bücher des NT definierte. Die Fragen liegen auf der Hand.
War also fast 350 Jahre Unklarheit darüber, welche Bücher inspiriert waren und welche nicht?
Konnte, als die Kirche bereits verstaatlicht wurde (313 wurde Konstantin der Große Oberhaupt der Kirche), mehrere arianische Kaiser geherrscht haben, und die Urkirche am Abklingen war, festgestellt werden, welche Schriften inspiriert sind? Wer gibt dann Gewähr, dass Athanasius in diesem Punkt recht hatte. Selbst wenn man auf den Konzil von Nizäa verweisen möchte, wird die Angelegenheit nicht besser. Und im Ernst, schon der Titel “Bischof” macht einen skeptisch. Im Übrigen nutzt die katholische Kirche genau diese These, um zu untermauern, dass kirchliche Autorität und Schrift gemeinsam Hand in Hand gehen. Die Größere Hand hat dabei natürlich die Kirche. Siehe hier einen zugegebenermaßen wirren Artikel der Piusbrüder.
Lange blieb es für mich ein Rätsel, wie man diesen Knoten löst. Nicht das Zweifel an der Autorität des Wortes aufkamen, aber ein seltsames Gefühl, seine ganze Hoffnung doch nicht auf das Wort Gottes setzen zu dürfen, sondern auf Beschlüsse einiger frommer Bischöfe. Die Lösung war denkbar einfach. Hier muss ich eine Begebenheit erzählen. Manchmal höre ich Predigten eines englischen Pastors Namens Chris Buss. (Hier ist ein Link zu seiner Gemeinde.) Es sieht zwar komisch aus, wenn man mit Kopfhörern in der Garage aufräumt, aber es scheint mir eine sinnvoller Zeitvertreib zu sein. Nun hörte ich das Thema “The Canon of the Bible”. Eigentlich wollte mir das gar nicht zu sagen, da ich Vorträge zu diesem Thema schon oftmals gehört habe und mich bereits mit meiner oben beschriebenen Unklarheit abgefunden hatte. Doch beim Hören wurde genau auf diesen Punkt eingegangen und nun konnte ich klar sehen.
Die Lösung ist derart: Athanasius hielt nur fest, was üblich ist. Die Notwendigkeit, eine Definition zu verfassen, wurde erst nötig, als Arianer und andere Irrlehrer aktiv Abweichungen von den in den Gemeinden üblichen Büchern vornahmen. Manche Gruppen wollten z.B. nur noch die Paulusbriefe und die Evangelien dulden, einige sogar nicht einmal alle der vier Evangelium. Andere wiederum fügten weitere pseudochristliche Schriften hinzu. Athanasius reagierte, wie jeder gute Hirte reagieren würde: Er stellte sich hinter den klar bekannten und üblichen Kanon. Im Grunde bekannte er nur das, was schon seit Jahrhunderten jedem klar war. Vielleicht darf ich parallele Beispiele einfügen. Bei der Recherche verschiedener Mittelalterlicher Bräuche stieß ich immer wieder darauf, dass die üblichsten Bräuche am wenigsten beschrieben sind, da jeder von diesen wusste. Als bekanntes Beispiel sei das Beilager genannt, eine für uns skurril anmutender Brauch während der Eheschließung. Details hierzu lassen sich Wikipedia entnehmen. Hier heißt es interessanterweise:
Das rituelle Beilager ist im Hochmittelalter sehr selten bezeugt, da kaum Hochzeitsbeschreibungen überliefert sind. Man vermutet, dass es so alltäglich war, dass man es nicht beschreiben musste.
Alltäglich war auch der Gebrauch der Neutestamentlichen Schriften in den Gottesdiensten der ersten Christen. Hier war kein Machtwort von Bischof oder Konzil nötig. Welch Trost in solch einfachen Wahrheit verborgen ist.
Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit… (2. Tim. 3,16)
Der Tendenz liberaler Theologen, alles möglichst spät anzusetzen, so dass die Petrusbriefe fast schon ein Produkt des Frühmittelalters werden, trat sogar einer ihrer eigenen und gelehrtesten Vertreter entgegen. So schrieb Kurt Aland:
„Die erste sichere Bezeugung bei den Kirchenvätern bedeutet gleichzeitig ein Indiz für die Entstehungszeit der Schrift, die zwei bis drei Jahrzehnte vorher angesetzt werden muß, jedenfalls nach den Durchschnittswerten, mit denen der Historiker rechnet.” (Aus: Methodische Bemerkungen zum Corpus Paulinum)
Doch die Datierung der Heiligen Schrift ist ein Thema, dem ich mich bei einer anderen Gelegenheit intensiver widmen werde.