Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls hier der Versuch eines Gedenkens aus anderer Sicht.
Ich bin 39 Jahre alt, war also zur Wende 14, und hatte die DDR bis dahin als Hort einer wohlbehüteten, sehr erfüllten Kindheit und Schulzeit (in der es auch Probleme gab) erlebt, ohne mit dem Bekanntschaft gemacht zu haben, was für so viele Ältere traumatisch gewirkt hatte: die DDR als Unterdrückungsstaat. Von daher stehe ich diesem Land ambivalent gegenüber. Meine direkten, realen Erfahrungen sind überwiegend und überaus positiv, mit dem Verstand erkenne ich aber die Existenz des Bösen an, ohne diesem in seiner vollen Ausformung je selbst begegnet zu sein. Es ist also ein theoretisches Wissen um jenes Unrecht, welches für meine Eltern wiederum sehr real war.
Nun mache ich leider folgende Beobachtung: sehr viele, für die das Schlimme am DDR-System real war, erlebten den Wende-Moment als einen sie euphorisierenden Kollaps des Ihnen Verhassten. Die Eindrücke von damals scheinen sich allerdings derartig „positiv traumatisch“ in die Psyche der Älteren eingebrannt zu haben, dass sie quasi in jenem Moment gefangen sind wie in einer Zeitblase und nicht wieder heraus können.
Möglicherweise hat das Glück in zu kurzer Zeit zu hell gestrahlt und die seelische Netzhaut geblendet, als hätte man zu lange in die Sonne geschaut. Möglicherweise sind davon blinde Flecke zurück geblieben. Denn mancher wurde in gewisser Weise unzugänglich für die sich seit damals vollziehende Entwicklung — speziell der BRD. Wenn man jenen, die den Fall der DDR als ultimativen, persönlichen Befreiungsmoment verinnerlicht haben, heute sagte, die BRD existiert im Grunde gar nicht mehr bzw. die Zustände in der BRD sind teilweise schon schlimmer als jene in der DDR (ich sage ausdrücklich: teilweise!), erntet man immer wieder ungläubiges Nicht-Hören-Wollen oder verächtliches Schnaufen nach dem Motto „was wisst ihr denn davon“.Deshalb soll hier einmal der Blick auf das große Phänomen DDR, Wende und die Zeit bis heute speziell aus christlicher Sicht geworfen werden. Denn die Christen in der DDR sind überwiegend der Meinung, dass die Wende von Gott war und den Menschen die Freiheit gebracht hat. Dass die Wende demnach als großer Segen zu verstehen ist. Das stelle ich in Frage. Jedoch nicht aus Gründen irgendeiner nostalgischen Sehnsucht nach den behüteten Zuständen meiner DDR-Kindheit.
Wenn ein Christ, der in der DDR sozialisiert wurde, sagt, die Wende war von Gott und hat uns die Freiheit gebracht, was meint er dann damit? Was meint er mit „Freiheit“? In erster Linie vermutlich Glaubens-, Rede-, Meinungs– und Reisefreiheit. In zweiter Linie wahrscheinlich die Freiheit von der alltäglichen Not, dass es „nichts gab“. Zuletzt möglicherweise auch die Befreiung von einer Währung, die nichts wert war. Aus menschlicher Sicht sind dies tatsächlich allesamt Punkte, die zum Wohlbefinden im Leben beitragen. Die Frage ist: welcher Punkt ist für einen Christen der wirklich relevante? Berührt eine dieser „Freiheiten“ das Zentrum des christlichen Lebens?
Die Antwort darauf finden wir, wenn wir uns vergegenwärtigen, was das Zentrum des christlichen Lebens und wie in dieser Hinsicht „Freiheit“ zu verstehen ist. Das Zentrum des Christen ist sein Herr, Jesus Christus. Und Freiheit in Christus bedeutet, von der Welt und vom eigenen Ich erlöst zu sein. Nun — war es das, womit der Westen warb, womit er lockte, was die Massen auf die Straße trieb und sie sich nach dem Westen ausstrecken ließ? Nein, ganz im Gegenteil. Der Westen warb nicht mit Freiheit von der Welt und vom Ego, sondern gerade mit den Freuden der Welt. Mit Wohlstand, Materialismus, Selbstverwirklichung, Geld und Erotik. Die Freiheit des Westens war die Befreiung zu Genuss und Hingabe an die Welt. Es war die Befreiung des Ich und des Fleisches.
Doch: je mehr Freiheit das Fleisch erlangt, desto stärker wird der Geist zurückgedrängt.
DDR-Christen haben das überwiegend nicht erkannt. Einerseits, weil wohl der Leidensdruck in der DDR zu groß gewesen ist, andererseits, weil sie möglicherweise übertölpelt wurden, denn die Wiedervereinigung war nicht oberstes Ziel der Friedensgebete und der ersten Demonstrationen, sondern es war die Veränderung des Landes von innen heraus gewesen. Wie schnell dann alles zusammenbrach und wie überraschend die Wiedervereinigung zustande kam, davon wurden auch die Christen selbst überrannt. Von diesem historischen Sog mitgerissen finden sie bis heute keine andere Erklärung, als dass es das übernatürliche Wirken Gottes gewesen sein müsse — obwohl die Aufarbeitung der tatsächlichen Geschehnisse sowie deren hintergründiges Zusammenwirken bis heute weder abgeschlossen noch überhaupt mit wirklichem Ernst begonnen wurde.
Über vieles gibt es bis heute keine Akteneinsicht. Der schulische Geschichtsunterricht endet in der Regel im Jahre 1990 — als wäre damit die Geschichte an ihr Ende gelangt. Das erweckt den Eindruck, der DDR-Bürger wäre nach dem Ende des real existierenden Arbeiter– und Bauernstaates in eine Art irdische Ewigkeit eingetreten, ein immerwährendes Dahinfließen des Wohlstandes, der blühenden Landschaften und des dauerhaften Friedens. Nichts liegt heute ferner. Was ist es also, wohinein der DDR-Christ kam?
Objektiv betrachtet muss man feststellen, dass die Christen der DDR nicht von der Unterdrückung in die Freiheit kamen, sondern eher vom Regen in die Traufe. Oder sogar schlimmer. Denn für einen Christen zählt der Verlust der irdischen Freiheiten gegenüber dem Verlust des unerschütterlichen Gegründet-Seins in Christus nur „Dreck“, wie Paulus sagen würde. Doch genau dieser „Dreck“ ist es, dem die Christen nach der Wende sofort nachzujagen begannen, der sie geistlich gesehen müde, saft– und kraftlos machte. Die Unterdrückung in der DDR war für das Christentum, wie bereits oben dargelegt, ein Segen, weil diese es zu einem starken Glauben zwang, die Gläubigen dazu nötigte, das Wort — die Heilige Schrift — zu kennen und zu verstehen.
Das erste, was den Christen nach der Wende wiederfuhr, war — fast zwangsläufig — dass ihr Glaubensfundament aus dem Westen angegriffen wurde. Schwärmerische Strömungen, die sich neben der Bibel auf zusätzliche „Offenbarungen“ beriefen, Psychologisierung des Glaubens, Entkernung des Evangeliums etwa durch ökologische Strömungen, tranceartiger Lobpreis, die Rückwendung zu Mystik (Visionen) und damit zum Seelisch-Fleischlichen, Prediger aus Übersee, die sich selbst gegenüber Gehorsam einforderten und überall, wo sie gegen Bares auftraten, eine „Salbung“ herbeiredeten und sogenannte „Wunder“ taten — dies alles in hochgestochenen Worten und beeindruckender Bühnenperformance, von welchen sich die unbedarften DDR-Christen täuschen ließen. Mir selbst wiederfuhr das ebenfalls, doch es war mir vergönnt, unter großen Enttäuschungen den Irrtum zu erkennen.
Heute ist das Christentum auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bei weitem keine solch starke Bewegung mehr, wie es das zu DDR-Zeiten gewesen ist. Deshalb steht es den momentanen Bedrohungen auch nicht nur weitgehend kraftlos, sondern auch vielfach blind gegenüber. Hatten die Christen der DDR noch den klaren Blick für die Missstände des Systems, hatten sie den Mut diese zu benennen und dagegen bekennend aufzustehen, so ziehen sie sich heute in ihr durch den hinzugewonnenen Wohlstand errichtetes Privatreich zurück, sind bemüht, ihre Kredite zu bedienen und möglichst nichts vom erreichten Lebensstandard einzubüßen.
Mit einem Beispiel will ich die Gefahr bzw. den Niedergang, in welchem sich das Christentum derzeit befindet, illustrieren.
Einige Zeit besuchte ich eine kleine Gemeinde russlanddeutscher Aussiedler. Alle Mitglieder waren alte Leute. Ich fragte einmal, wo denn die ganzen Jungen wären. Ach, begann ein allgemeines Seufzen, das sei ihr größtes Leid überhaupt: die Kinder seien alle weg vom Glauben. Weil die Alten überaus fromme Menschen waren, Lutheraner und aus der Brüderbewegung, wunderte ich mich und fragte, wie es denn dazu gekommen sei.
Man erzählte mir folgendes: Ab 1990 seien westliche Prediger nach Sibirien gekommen und hätten ihnen gepredigt, die Sowjetunion sei das Reich Satans und sie sollten doch in den Westen kommen. Dort wäre die Freiheit. Sie fragten einen ihrer Ältesten, ob man in den Westen gehen oder hier bleiben solle. Der Alte hatte ihnen geantwortet: wenn ihr etwas für Gott tun wollt, dann bleibt hier, aber wenn ihr ein schönes Leben wollt, dann geht. Die meisten hätten sich dafür entschieden, zu gehen. Die Folge war, dass alle Kinder vom Glauben abfielen, weil ihnen das Leben im Westen zu viele Möglichkeiten bot und der Glaube für sie nicht mehr attraktiv war. Die alten, im Glauben Geprüften, blieben zwar ihrem Herrn treu und lebten auch im Westen ihr bescheidenes Leben weiter. Doch sie mussten mit ansehen, wie Ihre Kinder verloren gingen. Einige seien sogar schon wieder nach Russland zurückgekehrt. Viele, die weiter hier geblieben waren, würden es sehr bereuen, in den Westen gegangen zu sein … Die Leute hatten Tränen in den Augen, als sie davon erzählten und sahen mich mit fragendem Blick an — als ob ich ihnen helfen könnte.
Ich frage mich: was unterscheidet die DDR-Christen eigentlich von jenen Russland-Deutschen?
Mein Fazit nach 25 Jahren Mauerfall lautet deshalb:
Bevor es einen Grund zum Feiern gibt, besteht hundert, ja tausendfach Grund, in Sack und Asche zu gehen und Buße zu tun.