“Und niemand, der vom alten Wein trinkt, will neuen; denn er spricht: Der alte ist milder.” (Lukas 5,39)
Meine Halbzeitanalyse soll nicht nur auf glaubend.de (dort numerisch) stattfinden, sondern auch in der literarischen Welt (hier alphabetisch).
Als Leser entwickelt man irgendwann, häufig völlig unbewusst, irgendwo im “Hinterkopf” versteckt ein Bewertungssystem für das Gelesene. In diesem Blog habe ich wiederholt versucht, diese Bewertung in Rankings darzustellen (hier, hier und hier). Bereits der Versuch einem Werk das Prädikat “lesenswert” zu verleihen, schließt mit ein, dass man wiederholt zu diesem greifen würde und sollte. Eine Buchempfehlung ist somit auch der Ausdruck der eigenen Beziehung zu einem Werk. Dies und das empfand man kostbar, das möchte man weitergeben. Und das was ein anderer Lesen soll, das sollte man auch selbst erneut lesen. Dafür möchte ich den “Rereading-Faktor” einführen, kürzen wir ab mit RF. Bleibt RF<1, ist das Buch nicht wert zu Ende gelesen zu werden, ist RF>1 oder gar >>1 ist ein wiederholtes Lesen Pflicht. Ein RF von z.B. 2 bedeutet, dass das Buch wert ist vollständig erneut durchgearbeitet zu werden. Übrigens kann es durchaus passieren, dass ein Buch (gerade umfangreiche Werke) je nach Kapitel oder Abschnitt einen variierenden RF bekommen. – Soweit die Theorie.
Es erscheint weise, diese Bewertung möglichst zügig zu treffen. Ein Buch, das nicht wert ist, zu Ende gelesen zu werden, kann man getrost zur Seite legen. Es ist einfach nicht genug Lebenszeit da, um sie mit schlechten oder mittelmäßigen Büchern zu verbringen. Es gibt wirklich eine ganze Menge erstklassiger Literatur. Deswegen versuche ich meine (aktive) Bibliothek so auszurichten, dass der Rereading-Faktor >=1.5 ist. Das bedeutet, ich möchte wirklich Bücher lesen, auf die ich wiederholt mit Gewinn zurückgreifen kann. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der ich den Druck verspürte ein Buch, das man anfing auch zu Ende zu lesen, egal wie schlecht es war. Aber ich denke hier liegt ein falscher Ehrgeiz vor. Gleichzeitig würde ich nicht jedes Buch verschmähen, das man eigentlich nicht wieder lesen würde. Dazu gehören eine ganze Menge an Krimis. Doch hier habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, gottlose Werke lieber früher als später zur Seite zu legen.
Mir ist klar, das ich für den “Gewohnheitsleser” (oder vielleicht besser als Gewohnheitsleser) spreche, der ohne die Absicht einer wissenschaftlichen Analyse liest. In einer wissenschaftlichen Analyse ist es gelegentlich unumgänglich die seltsamsten Schriften penibel gründlich zu lesen, obwohl man sie langweilig, widersprüchlich findet und die vertretenen Positionen geradezu verdammt. Einmal wollte ich wissen, wie Luthers Antisemitismus tatsächlichlich gelagert war, und habe die meisten seiner Auseinandersetzungen mit dem Judentum gelesen. Seine Werke “Von den Juden und ihren Lügen”, “Shem Hamphoras” und “die Vermahnung wieder die Juden” kann man nur mit Entsetzen und Haarsträuben verarbeiten. Nicht lesenswert, nicht empfehlenswert, aber es war der einzige Weg sich ein eigenständiges Bild von diesem düsteren Kapitel im Leben Luthers zu machen.
Ein Beispiel für Werke mit hohem RF, die ich dieses Jahr entdeckt habe: “Kirchengeschichte” des Eusebius, “Ten Cesars” von B. Strauß und “Jesus and The Gospels” von C. Blomberg.
Gleichzeitig habe ich mal wieder zu einer ganzen Menge Bücher erneut gegriffen. Erneut erneut! Mit ganz unterschiedlichen und teilweise unerwarteten Erfahrungen. Ich habe erneut zu “Darf ein Mensch sich für die Wahrheit totschlagen lassen” von S. Kierkegaard gegriffen. Ich weiß noch, wie ergriffen ich war, als ich dieses Werk das erste Mal las, ich verfasst gleich eine euphorische Rezension. Beim erneuten Lesen wurde mir zwar klarer, warum ich damals so euphorisch reagierte, aber ich finde die Hauptthese des Werkes heute viel weniger relevant wie damals. Das erneute Lesen half mir eher mein eigenes Mindset zu reflektieren. Ich habe mich zu dieser Zeit bei jedem Widerspruch zu sehr als Märtyrer der Wahrheit gewertet. Eine ähnliche Erfahrung habe ich mit “Fürst Serebryani“(bzw. deutscher Titel manchmal “Iwan der Schreckliche” von A. Tolstoi) gemacht. Die dort vorgebrachte These, dass man in einem zu verwerfenden System entweder irgendwann selbst Teil des Systems wird, oder zu einer handlungsunfähigen Opposition verkommt, hat mich sehr bewegt, als ich das Buch als Jugendlicher das erste Mal las. Diese These beschäftigte mich sehr. Der Versuch von Innen heraus konstruktiv zu gestalten führt zum Verkauf der Seele, und der Versuch aktiv zu widerstehen führt zur Isolation und dem Verlust der Seele. Ein unauflösbares Dilemma! So viele Jahre blieb dieses Buch für mich ein Weckruf und ich habe viele Leute erlebt, die als junge Menschen sehr wohl Feuer und Flamme für die Wahrheit waren, aber gerade in dem Alter, in dem ich mich gegenwärtig selbst befinde, furchtbare Kompromisse machten. Für ein Ämtchen, oder eine Würde oder eine Ordination oder ein bisschen Gemütlichkeit tauschte man Seele und Prinzipien ein. Ich glaube auch nach erneutem Lesen, das Tolstoi hier einen wichtigen Punkt trifft, aber es gelingt ihm nicht so gut, wie er es hätte machen können. Auch ist die literarische Qualität des Gesamtwerkes nicht so hoch, wie ich sie, entzündet vom hier dargestellten Thema zunächst übersah.
Ein anderes Erlebnis hatte ich, als ich erneut zu “Gott erkennen” von Packer griff. Ich habe mich schon lange gefragt, woher ich einige ganz spezielle apologetische Argumentationen habe. Und als ich die Kapitel von Packer las, habe ich mich erneut erinnert, wie Packer mich geprägt hat. Erst durch das erneute Lesen wurde mir bewusst, das Packer eine prägende Person für mein Denken ist.
Ich habe auch zu “Plaudereien in meinem Studierzimmer” von W. Busch gegriffen. Das Buch hat mich wiederholt getröstet, herausgefordert, ich fand viel Weisheit in den Gedanken von Busch. Die Menge an Glaubensvorbildern regt zum weiteren Lesen an. Für mich sind “die Plaudereien” ein gewisses Buch der Mitte, zu dem ich immer wieder zurückkehre. Es gibt von Spurgeon ein ähnliches Werk, das mich ähnlich bewegt, wenn ich zu diesem greife (und das leider äußerst unbekannt ist): “Eccentric Preachers”.
An dieser Stelle ist es nötig zu erläutern, wie man den RF eines Werkes ermitteln kann. Ich denke hier an Parameter wie die Inhaltskonzentration (wenn wir schon bei Abkürzungen sind, nennen wir das IK) und Argumentationstiefe(AP): Werden wirklich nach Wissen und Können alle vorhandenen Fakten bei der Analyse einer Frage beleuchtet? Hat man sich der Frage/dem Thema sowohl in der Breite wie in der Tiefe genähert? Man kann sich auch die Frage stellen: Arbeitet das Buch gründlich und bleibt es umfassend? Wenn der Autor dabei auch noch fokussiert bleibt, hat man einen Schatz in seiner Bibliothek, den man hüten sollte. Irgendwie reduktionistische Sichten auf Welt, Leben oder Gott sollten vermieden werden. Ein Buch von dieser hohen Qualität wäre z.B. die Institutio von Calvin. Der Mann liefert hier Seite für Seite präzise biblische Exegese bei einer sehr umfangreichen Beleuchtung möglicher Gegenargumente und Gedankengänge, ohne sich allzu sehr in Details zu verlieren (Ich gestehe jedoch ein, dass nicht die komplette Institutio überall den gleichen RF erreicht). Jemand, der die ganze Zeit das gleiche Argument breit tritt, nimmt mich als Leser nicht ernst, oder hält mich offensichtlich für blöd (warum sonst wiederholt er sich ständig?). Und jemand anderes, der nicht gründlich auf mögliche Gegenargumente /schwierige Anwendungen/etc… eingeht, da bekomme ich beim Lesen das Gefühl, dass ich betrogen werden soll (warum sollte der Autor sonst ein offensichtliches Argument unterschlagen?). In beiden Fällen kann man nicht ein sonderlich lesenswertes Werk produzieren. Wir haben in diesem Artikel Luther bereits als negatives Beispiel aufgeführt. Aber neben seiner misslungenen Auseinandersetzung mit Juden und Widertäufern findet sich viele äußerst gelungene Auseinandersetzungen über das Evangelium: Von den Guten Werken, Wie man Beten soll, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Was Luther im Vergleich zu Calvin an Präzision fehlt macht er durch Kreativität und überraschend angenehme Lesbarkeit wieder wett. Ich bin immer wieder überrascht, dass es mir viel einfacher fehlt Luther zu lesen, als viele Werke (die ansonsten einwandfrei sind), die eigentlich meiner Zeit näher sein sollten.
Wir können auch ein Werk wählen, das zeitgemäßer ist: “Dienstanweisung an einen Unterteufel” von C.S. Lewis ist derart voll von Strategien des Satans Christ zu verführen, dass ich auch nach viermaligem Lesen noch nicht einmal eine Übersicht über die Verführungsstrategien habe.
Mit bestimmten Literaturgattungen muss man eine modifizierte Form des Rereadings annehmen. Dazu gehören Predigten. Mir scheint es häufig besser zu sein, nicht die gleiche Predigt mehrfach zu lesen (Achtung: es gibt Ausnahmen!), sondern lieber verschiedene Predigten aus unterschiedlichen Zeitpunkten. Bei Tim Keller wird man z.B. durchaus einen Unterschied zwischen den 90er Jahren Predigten und den 2020er Predigten finden, aber auch überraschende Parallelen. Ähnlich ist es mit klassischer Literatur. Allein die schiere Auswahl macht es häufig notwendig, dass man von guten Autoren, lieber zu einem weiteren bisher nicht bekannten Werk greift. Egal wie sehr “Brüder Karamasow” mich beeindruckt hat, das nächste Werk von Dostojewski (oder einem russischen Autor) wird eines sein, dass ich noch nicht kenne)
Ich bin mir sicher, alle Bibelleser werden den Nutzen vom Wiederholten Lesen kennen. Kein Konzept der Bibellektüre geht davon aus, dass man mit der Bibel durch ist, wenn man sie ein einziges Mal durchgelesen hat. Tatsächlich werden die thematischen Verknüpfungen, die Schönheit der Gliederungen, Weiterentwicklungen bereits vorgekommener Themen und vieles mehr erst durch viele Male des Lesens erfasst und erfassbar. Damit möchte ich schließen: Wenn wir auch kein Werk finden sollten, dass wir für würdig halten, um es erneut zu lesen: Bei der Bibel werden wir niemals fehl liegen, sie erneut zu lesen.