2019 war für mich durch das Lesen (und Hören) der Werke von Carl R. Trueman geprägt. Es ist ein neues Ereignis, sich ausführlicher mit ein und dem selben Autor zu beschäftigen (vielleicht müsste man Martin Luther ausnehmen, in dem Fall meine ich ein und den selben zeitgenössischen Autor). Motiviert haben mich die Autorenprofile von Hanniel, mit dem Ziel, sich durch ein Gesamtwerk durchzuarbeiten. Doch an das umfangreiche Werk von z.B. Carson wagte ich mich zunächst nicht. Somit ein Quick-Review über den Autor, Dozenten, Pastor, Prediger und Blogger Trueman:
Histories and Fallacies
Auf Trueman selbst bin ich diesen Frühjahr eher zufällig gestoßen. Auf meinem Kindle befand sich Histories and Fallacies. Das Portrait von Marx auf dem Cover fand ich belustigend und so griff ich zum Werk. Das Werk ist der Hammer! Im Grunde genommen geht es um Geschichtshermeneutik. “Woher wissen wir, dass wir wirklich etwas wissen und nicht nichts wissen?” Komischer Satz, aber durchaus der Anspruch der Postmoderne, dass alles nur Ansichtssache ist. Trueman enttarnt diesen Anspruch elegant, in dem er das Thema Holocaust-Leugnung analysiert. Hier wird deutlich: den Holocaust zu relativieren kann eigentlich nur sadistisch sein. Sehr geschickt deckt er Strategien der Holocaust-Leugner auf. Ein Beispiel: Widersprüchliche Augenzeugenberichte werden als weltweite zionistische Verschwörung deklariert. Plötzlich sind Holocaust-Leugner die letzten Verteidiger der Meinungsfreiheit, die gegen die “Mächtigen, da oben” kämpfen. Weitere Themen im Buch: Marxisistische Geschichtsschreibung; War Luther ein Nazi?; Hat Turrettini Calvin widersprochen?; Wie hat sich Athanasius selbst dargestellt?
Ein Kapitel im Buch beschäftigt sich mit typischen Fehlern der Geschichtsschreibung, wie dem Anachronismus. Zahlreiche Beispiele aus der zeitgenössischen britischen und amerikanischen Geschichte machen das Buch sehr lesenswert. Ich habe es verschlungen.
Reformation: Heute noch aktuell?
Nach diesem Buch war klar: Mehr muss her. Und in der Tat habe ich sogar ein Werk Truemans auf Deutsch gefunden (Englisch: Reformation: Yesterday, Today, Tomorrow). Hierbei handelt es sich um vier Essays über Impulse der Reformation, die heute noch pulsieren müssen: Die Bedeutung der Schrift und die damit verbundene Ethik der Lesearbeit (in der Bibel). Die Bedeutung des Kreuzes Christi und das damit verbundene Mittel des Trostes. Die Zentralität der Heilsgewissheit. Trueman erklärt Reformation als Handreichung.
The Creedal Imperative
Das besondere an diesem Buch ist, dass es auf eine sehr entarnende Weise die Haltung “Wir haben kein Bekenntnis, nur die Bibel” als ein Spiegel der Postmoderne enttarnt. Diese Haltung ist z.B. antiautoritär und leugnet die Bedeutung dessen, dass das Christentum eine historische Religion ist. Das Buch entwickelt tiefgründig die Entwicklung der historischen Bekenntnisse, sowie die reformierten Bekenntnisse der Reformationszeit. Besonders spannend ist das letzte Kapitel. Hier geht Trueman der praktischen Umsetzung nach. Z.b. schlägt er vor, ein lange akzeptiertes Glaubensbekenntnis (er meint im Kontext The Westminster Confession), nicht einfach umzuwandeln, sondern z.B. durch Ergänzungen, die nur für die Ortsgemeinde gelten, zu erweitern. Dadurch bleibt die Gemeinschaft im Verbund ungestört und die Sitten einer Ortsgemeinde respektiert. Ein historisches Beispiel dafür ist die Schwagerehe. Also dieses Buch gehört ins Deutsche übersetzt!
Fools Rush In & Minority Report
Trueman schreibt sehr humorvoll. Er spart nicht mit Sarkassmus und mit Kritik am Evangelikalismus. Unter seinen zahlreichen Essays auf zahlreichen Blogs (z.B. Firstthings, Reformation21, alliancenet) findet sich reichlich Ironie. Ohne Links anzugeben: Witze über Tim LaHaye oder die Scofield-Bibel finden sich en masse. Aber auch Wayne Grudem, Don Carson, Joel Beeke oder sogar David F. Wells kriegen ihren Speck ab. Ich empfand das aus einem Grund hilfreich: Bei evangelikalen Autoren gibt es entweder prinzipiell Lobhudelei (“Ah, er ist ein Supernaturalist, dann ist das Buch auch gut”) oder sehr platte und unsachliche Kritik von Nicht-Christen (“Ah, er ist ein Supernaturalist, dann ist das Buch so wieso schlecht”). Trueman schließt hier für mich eine wichtige Lücke, sachlicher Kritik an Autoren, die ich gerne lesen möchte. Noch wichtiger (und nötiger) empfinde ich seine Kritik am verwöhnten Westler. Dieser ist nicht ein armes unschuldiges Opfer seiner Umstände, sondern ein krankhafter Narzisst, der auf seinem selbstgebauten Thron der Gottgleichheit aussieht, wie ein Affe, der sich mit Lippenstift bekritzelt hat. Hier scheint mir etwas Spott durchaus angebracht! Übrigens: Für kaum einen Artikel habe ich so viel Kritik bekommen, wie für die Übersetzung eines Essays von Trueman. Trueman untersucht ganz unterschiedliche Situationen: Bücher von Kierkegaard, evangelikale Megachurchs in den USA, Brexit, Erlebnisse beim Autokauf, Auseinandersetzung mit dem Katholizismus.
Republocrat
Für jeden Christen, der mit der AfD sympathisiert sollte dieses Buch zur Pflichtlektüre werden. Dabei will ich hier gar nicht sonderlich gegen die AfD sein, sondern empfand das Buch als Befreiung in politischen Fragen nüchtern und selbstbewusst zu denken. Die Gängelung der Neo-Linken Parteien erscheint mir ebenfalls unerträglich. Dadurch, dass Trueman amerikanische Ereignisse bespricht (zur Zeit Obamas), bleibt auch eine Distanz erhalten. Für Trueman als Briten in den USA dürfte diese Objektivität ebenfalls hilfreich gewesen sein. Herrlich deckt Trueman auf, wie die Republikaner die Evangelikalen der USA an der Nase herumführen. Übrigens, das Vorwort von Peter A. Lillback kann man ruhig überspringen.
Der Kampf um die Dreieinigkeit
Trueman ist kein Freund der Subordination Christi in der Dreieinigkeit Gottes. Hier geht es zu den Highlights. Ich denke Trueman trifft einen sehr wunden und wichtigen Punkt: Die Orthodoxie-Armut des modernen Evangelikalismus wird irgendwann zum Arianismus oder einer anderen gottlosen Ketzerei führen. Dann wird es aber wohl für alle ganz unerwartet gekommen sein. Trueman verteidigt die Rechtgläubigkeit mit Essay-Beiträgen in unterschiedlichen Werken:
- The Trinity and prayer in The essential Trinity
- Atonement and the Covenant of Redemption in From Heaven He Came and Sought Her: Definite Atonement in Historical, Biblical, Theological and Pastoral Perspektive (ein gigantisches Werk, dass sich mit der wohl umstrittensten reformierten Doktrin, nämlich der begrenzten Sühne beschäftigt)
- The God of Unconditional Promise in The Trustworthiness of God: Perspectives on the Nature of Scripture
- Rage,Rage Against The Dying of the Light – Antrittsrede als Professor am WTS und Richard Baxter on Christian Unity in Issues in History and Exegesis (frei verfügbar)
- Taylor’s Complex, Incomplete Historical Narrative in Our Secular Age: Ten Years of Reading and Applying Charles Taylor
Vorlesung: Refomation und Mittelalter
Bei einem derart breiten Themenbereich kann man seine ursprüngliche Aufgabe fast übersehen, nämlich Kirchengeschichte. Über 33 h umfasst Truemans monumentale und frei verfügbare Vorlesung zur Reformation. Eine Video-Version findet sich auch auf Youtube. Eine ausführliche Besprechung bei Hanniel. Etwas anspruchsvoller ist der Kurs zur Kirche des Mittelalters.
Mehr Audio?
Am WTS hielt Trueman einen sehr schönen Vortrag über George Whitefield.
Mit The Good, The Bad and The Ugly findet sich von 2003 ein interessanter Beitrag über unterschiedliche Verständnisse zur Beziehung zwischen Staat und Kirche zur Zeit der Reformation aber auch heute.
Warum heute Lady Gaga den Ton angibt und nicht die Rationalität analysiert Trueman hier.
Im März hat Trueman zudem mit seinem Beitrag “Follow the Money” es ordentlich krachen lassen.
Mortification of Spin
Ja, die haben wirklich John Owen Kopfhörer angezogen und den Buchtitel in Abtötung der Spinnereien umgewandelt. Die? Ja, Trueman mit seinen Kollegen Todd Pruit und Aimee Byrd machen wöchentlich einen Podcast (Hier geht es zum Apple Podcast). Übrigens ist Carl R. Trueman John Owen Experte. Den Podcast habe ich nur wenig verfolgt und kann kein klares Statement dazu abgeben.
Was steht noch an?
Einige Werke fehlen mir noch. Aber der Sarkassmus Truemans der durchaus auch ein Charakterzug von mir ist, klebt mir derzeit so an, dass ich zunächst einen anderen Autor einschieben werde. Als Nächstes möchte ich ausführlicher in das Werk von Ed Welch einsteigen.
Werke von Trueman, die noch auf meiner Leseliste stehen:
- Luther on the Christian Life: Cross and Freedom
- Between Wittenberg and GEneva: Lutheran and REformed Theology in Conversation
- Grace Alone
- The Real Scandal of the Evangelical Mind
Abschließend meine Lernfelder mit Aha-Effekt: Theologische Fragen auch in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu betrachten! Das gilt auch für zeitgenössische Themen. Klever Entwicklungen Hinterfragen. Säkulare Historiker Ernst nehmen. Orthodoxe Bekenntnisse nicht leichtfertig verwerfen. In der Reformationsgeschichte den Dualismus zwischen guten (Protestanten) und schlechten (Katholiken) meiden.