“… trotzdem Ja zum Leben sagen” von Viktor Frankl
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager

Viktor Frankl on the Human Search for Meaning – Brain PickingsIch bin über diese nüchternen und doch erschütternden Aufzeichnungen von Viktor Frankl in seinem Buch “… trotzdem Ja zum Leben sagen” gestoßen. Sie haben mich sofort gefesselt. Frankls Weisheit mit Leiden umzugehen ist äußerst lehrreich. Ich habe einige Zitate aus dem Buch ausgewählt:

Individuelle Schuld und gute Tat

Das Individuum ist es, das schuldig am Nächsten wird und jedes mal aufs Neue vor der Entscheidung steht, gut oder böse zu handeln. Entsprechend stellt Frankl fest:

Unter den Lagerinsassen, die sich viele, viele Jahre in Lagern aufhielten, von einem Lager in das andere und schließlich insgesamt in Dutzende von Lagern gebracht wurden, konnten sich im Durchschnitt nur jene am Leben erhalten, die in diesem Kampf um die Lebenserhaltung skrupellos waren und auch vor Gewalttätigkeit, ja sogar nicht einmal vor Kameradschaftsdiebstahl zurückschreckten. Wir alle, die wir durch tausend und abertausend glückliche Zufälle oder Gotteswunder – wie immer man es nennen will – mit dem Leben davongekommen sind, wir wissen es und können es ruhig sagen: die Besten sind nicht zurückgekommen (Hervorhebung des Autors)

“Der Mut zum Bekenntnis erhöht den Wert einer Erkenntnis”

Das Werk ist bereits 1946 erschienen, wurde im deutschsprachigen Raum zunächst lange kaum beachtet, ist aber in vielen anderen Ländern schnell zum Bestseller lanciert. Zunächst wollte Frankl das Buch anonym herausgeben, denn im KZ ist man nicht mehr Häftling, sondern nur eine Nummer. Er war Nummer 119104:

“Tatsächlich war die Niederschrift schon beendet, als ich mich davon überzeugen ließ, daß eine anonyme Veröffentlichung insofern entwertet würde, als der Mut zum Bekenntnis den Wert einer Erkenntnis erhöht. Daraufhin habe ich um der Sache willen auch auf nachträgliche Streichungen verzichtet und so den gebotenen Mut zum Bekennen gegen die Scheu vor dem Exhibitionieren ausgespielt – und damit gleichsam mir selber einen Streich gespielt.”

Die ersten Reaktionen

Wie reagiert man auf die Brutalität von Ausschwitz? Zunächst mit Galgenhumor, z.B. dann, wenn aus den Brausetrichtern, wirklich Wasser kommt… Bald gesellt sich aber auch Neugier, “ob ich mit dem Leben davonkommen werde oder nicht” dazu:

“Auch in Auschwitz herrschte diese gleichsam die Welt objektivierende und den Menschen distanzierende Stimmung fast kühler Neugier, die Stimmung des Zusehens und Zuwartens, auf die sich die Seele in solchem Augenblick zurückzieht und hinüberzuretten versucht. Neugierig waren wir, was nun alles geschehen würde und was die Folgen seien. Die Folgen z.B. davon, daß man, splitternackt und noch naß von der Brause, im Freien stehengelassen wird, in der Kälte des Spätherbstes. Und die Neugier wird in den nächsten Tagen von Überraschung abgelöst, z.B. von der Überraschung darüber, daß man eben keinen Schnupfen bekommt”

Soll man einen Alptraum beenden?

Im späteren Verlauf diskutiert Frankl ganz unterschiedliche Fragen des Lagers, z.b. die Option ” in den Draht zu gehen”, also Selbstmord dadurch zu begehen, dass man die um das Lager gespannte Hochspannungsdrähte anfasst, oder die Phase der Apatie, die Abtötung der normalen Gefühlsregungen. Oder auch, das vor allem Hohn und nicht die zugefügte Prügel schmerzen:

“Der körperliche Schmerz, den Schläge verursachen, ist – bei uns erwachsenen Häftlingen übrigens ebenso wie bei gezüchtigten Kindern! – nicht das Wesentliche; der seelische Schmerz, will heißen: die Empörung über die Ungerechtigkeit bzw. die Grundlosigkeit ist dasjenige, was einem in diesem Moment eigentlich weh tut. So ist es verständlich, daß ein Schlag, der gar nicht trifft, unter Umständen sogar mehr schmerzen kann: Einmal stehe ich z.B. auf offener Bahnstrecke im Schneesturm; trotzdem dürfen wir nicht die Arbeit unterbrechen; schon damit mir nicht allzu kalt wird, »stopfe« ich fleißig Geleise (mit Schotter). Für einen Augenblick halte ich mit der Arbeit inne, um auszuschnaufen, und stütze mich auf den Krampen. Unglückseligerweise wendet sich der Posten im gleichen Augenblick nach mir um und glaubt natürlich, daß ich »tacheniere«. Was mir nun – trotz allem und auch noch trotz der schon sich entwickelnden Abstumpfung – weh tut, ist nicht irgendeine Strafpredigt oder irgendwelche Prügel, die ich zu gewärtigen habe, sondern: daß dieser Posten es nicht einmal der Mühe wert findet, die herabgekommene und zerlumpte Gestalt, die nur mehr noch von ungefähr an eine menschliche Gestalt erinnern mag, diese Gestalt also, die ich da in seinen Augen wohl darstelle, eines Schimpfwortes zu würdigen. Was er nun tut, ist vielmehr folgendes: wie spielerisch hebt er einen Stein vom Boden und wirft ihn nach mir. So, mußte ich empfinden, macht man irgendein Tier aufmerksam, so erinnert man ein Haustier an seine »Arbeitspflicht«, ein Tier, zu dem man so wenig Beziehung hat, daß man es »nicht einmal« straft”

In besonderer Weise haben mich Frankls Überlegungen bewegt, die er hatte, als sein Kamerad an Alpträumen litt:

“Ich werde jedenfalls nie vergessen, wie ich eines Nachts dadurch geweckt wurde, daß der neben mir schlafende Kamerad, sichtlich unter der Einwirkung irgend eines schreckhaften Alptraumes, laut stöhnend sich herumwälzte. Ich will hierzu vorerst noch bemerken, daß ich persönlich seit je ein besonderes Mitleid für Menschen empfinde, die irgendwie von ängstlichen Wahn- oder Traumvorstellungen gequält werden. So war ich schon nahe daran, meinen armen, vom Alp geplagten Kameraden zu wecken. In diesem Augenblick erschrak ich über meinen Vorsatz und zog auch schon die Hand wieder zurück, die den Träumer wachrütteln sollte. Denn in diesem Augenblick war mir so ganz intensiv zu Bewußtsein gekommen, daß kein Traum, auch nicht der schrecklichste, so arg sein kann wie die Realität, die uns dort im Lager umgab und zu deren wach-bewußtem Erleben jemanden zu erwecken ich im Begriffe war…”

Lohnt sich das Leben nur, wenn man dem Sterben entkommt?

Hier arbeitet sich Frankl wirklich an eine Perle heran, die gerade in der Zeit von Konsumbetäubungen neu entdeckt werden muss:

“Während die Bekümmerung der meisten der Frage galt: Werden wir das Lager überleben? Denn, wenn nicht, dann hat dieses ganze Leiden keinen Sinn – lautete demgegenüber die Frage, die mich bedrängte, anders: Hat dieses ganze Leiden, dieses Sterben rund um uns, einen Sinn? Denn, wenn nicht, dann hätte es letztlich auch gar keinen Sinn, das Lager zu überleben. Denn ein Leben, dessen Sinn damit steht und fällt, daß man mit ihm davonkommt oder nicht, ein Leben also, dessen Sinn von Gnaden eines solchen Zufalls abhängt, solch ein Leben wäre nicht eigentlich wert, überhaupt gelebt zu werden”

Fazit

All diese Zitate werden kaum daran vorbeiführen, das ganze Werk zu lesen. Z.B. beschreibt Frankl wiederholt, dass das, was sich viele als Erleichterung erhoffen, oder das, was in die Verzweiflung stürzt, weil es nicht erreicht wurde, eigentlich gerade Wege zur Rettung waren. So kommt noch am Tag vor der Befreiung ein großer Konvoi: Die Gefangenen werden nun von der SS freundlich behandelt und versprechen sogar einen schnellen und guten Austausch gegen Kriegsgefangene in der Schweiz. Alle lassen sich mitreißen und für alle ist Platz, außer für Frankl und einen seiner Kollegen. Sie sind so enttäuscht, dass sie auf Grund und Stelle einschlafen und erst am nächsten Tag aufgeweckt werden. Sie sind nun befreit, erfahren aber nur einige Tage später, dass alle die in dem Konvoi in die vermeintliche Freiheit fuhren, noch auf die Schnelle verbrannt wurden.

In einem weiteren Kapitel denkt Frankl darüber nach, warum es falsch wäre, nach der Befreiung auf das widerfahrene Böse selber Böse zu reagieren. Die Kette muss durchbrochen werden. In einem Kapitel führt er dann aus, dass die innere Freiheit “so oder so zu reagieren” dem Menschen bis zum letzten Atemzug nie genommen werden kann. Nicht einmal im KZ. Hier spricht der erfahrene Arzt, der sein Leben lang mit Selbstmordgefährdeten Patienten gearbeitet hat.

Schließlich bleibt auch Frankls Fazit, dass er nach dem Bestehen der KZ-Zeit nun nichts mehr zu fürchten habe, außer Gott. Das  zeigt welche Perspektive man auf Prüfungen des Lebens haben kann. Gerade für unsere vom Konsum getriebene Gesellschaft kann dieses Buch ein guter Weckruf sein, sich nicht weiter zu betäuben und der Frage nach dem Sinn wegzulaufen, sondern “...trotzdem ja zum Leben zu sagen”. Ich für meinen Teil habe mir weitere Werke des Autors vorgemerkt.

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