Tipp: Wann ist ein Christ ein Christ?

„In der Tat hörte man im Jahr 2017 nicht viele Stimmen, die sich zur Rechtfertigung aus Glauben, dem eigentlichen Kernthema der Reformation, zu Wort melden.“ Diese Aussage von Wolfgang Nestvogel auf dem Klappentext seines Buches veranlasste ihn, das Thema zum 500-jährigen Reformationsjubiläum aufzugreifen und den aktuellen Kampf um die Rechtfertigung aus biblischem Verständnis zu beleuchten und um zu ermutigen, sich damit auseinanderzusetzen.

Das gut gegliederte Buch legt in Kapitel 1 und 2 dar, wie Luther und die anderen Reformatoren die im dunklen Mittelalter lange verlorene Wahrheit der Rechtfertigung allein aus Gnade ohne Werke (sola gratia), allein durch Glauben (sola fide), allein durch Christus (solus Christus) und allein auf der Grundlage der Schrift (sola scriptura) – all dies zur Ehre Gottes (soli Deo gloria) – wieder neu entdeckten. Diese fundamentale Wahrheit der Schrift ist die Offenbarung Gottes durch sein Wort, das er den Aposteln durch seinen Geist ins Herz legte.

Dass die Wahrheit Gottes im Allgemeinen und das Herz des Evangeliums, die Rechtfertigung des Sünders durch den ewigen Gott der Gnade, umkämpft war und niemals unwidersprochen bleiben wird, ist Thema der Kapitel 3 und 4. Die Neue-Paulus-Perspektive sowie die aktuellen ökumenischen Bestrebungen, die nicht zuletzt wieder verstärkt von Seiten der Kirche Roms ergriffen werden, flankiert von den Einheitsbestrebungen vieler progressiver Evangelikaler, stellen einen offenen Angriff auf die biblische Lehre der Rechtfertigung sowie des stellvertretenden Sühnetodes Christi dar.

Die Ausschließlichkeit des Glaubens

Die wahre Gemeinde Jesu Christi ebenso wie das wahre Evangelium steht und fällt mit der Lehre der Rechtfertigung. Die Lehre der Rechtfertigung begründet damit die eigentliche Identität nicht nur eines Christen sondern der Gemeinde Christi schlechthin. Dass die Werkgerechtigkeit der Kirche Roms hierzu im Widerspruch steht, ist eine Wahrheit, die heute zunehmend auf dem Altar ökumenischer Bestrebungen geopfert wird. „Die Rechtfertigungswahrheit ist nicht nur Speerspitze, sondern zugleich die Mitte des reformatorischen Glaubens. Sie ist das zentrale Anliegen, das in einem inneren Zusammenhang mit anderen grundlegenden Einsichten der Reformation steht. Darum eignet sie sich als bevorzugter Testfall der Rechtgläubigkeit: Sage mir, wie hältst Du’s mit der Rechtfertigungslehre?“ (19).

Die vier oder fünf solas… sind „Exklusivpartikel“, die durch ihre „Ausschließlichkeit zu einem eindeutigen ‚Entweder-Oder‘ herausfordern. In ihrem ungebrochenen Ja zur Schrift, zu Christus, zur Gnade und zum Glauben steckt zugleich ein kompromissloses Nein zu allen Forderungen, die das sola ergänzen und vermeintlich vervollständigen wollen. Die exklusive Position des reformatorischen Glaubens markiert zugleich die Negation (Abgrenzung) gegenüber dem römisch-katholischen Glaubensverständnis“ (21-22). Die logische Konsequenz hieraus ist, dass jegliches Streben nach Einheit oder gar eine Annäherung mit der Kirche Roms unvereinbar mit treuer Christusnachfolge ist. Andernfalls wird die Reinheit des Evangeliums geopfert. „Man wird in die Gefahr kommen, tolerant zu sein, wo man radikal sein müsste, und radikal, wo man tolerant sein darf; kurzum die Maßstäbe werden sich verschieben“, so das Zitat des deutschen evangelischen Theologen Hans Joachim Iwand (1899 – 1960), der noch klar und entschieden für den reformatorischen Glauben stritt (25). Mit anderen Worten, wer die Lehre der Rechtfertigung der Beliebigkeit preisgibt, gibt die evangelische Identität preis.

Der theozentrische Ansatz des Evangeliums

Bedauerlicherweise ist in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) die Umdeutung der Rechtfertigungslehre zu einer „Befriedigung religiöser Bedürfnisse“ (29) der Gesellschaft verkommen. Der theozentrische Ansatz des Evangeliums, also die biblische Wahrheit, wie der gerechte und heilige Gott am sündigen Menschen handelt und ihm in Christus die Gerechtigkeit zurechnet, sofern diese im Glauben ergriffen wird, wird der „Bedürfnislage des Menschen“ (S. 38) leichtfertig untergeordnet.

Die Aneignung der Gerechtigkeit geschieht im Glauben in einer persönlichen Beziehung und Einheit mit Christus. Luthers persönlicher Weg zum lebendigen Glauben war ein Ausreifen, das in seiner allmählichen Schrifterkenntnis wurzelte. „Die wohl ungereifteste Entfaltung der Rechtfertigungsbotschaft findet sich in Luthers Galaterbriefvorlesung von 1531. Darin definiert er nochmal den Begriff der ‚passiven Gerechtigkeit‘ als etwas, das nicht wir zu erbringen haben, sondern von Gott empfangen. … Damit kann Luther auch eindeutig definieren, wer ein Christ ist und wer nicht. ‚Nicht der ist ein Christ, der nicht hat oder fühlt Sünde, sondern der, dem die Sünde wegen des Glaubens an Christus nicht angerechnet wird.‘“ (54)

Gegenreformation und Konzil von Trient

Die biblische Wahrheit der Zurechnung der Gerechtigkeit durch Gott fand ihren Niederschlag in den Bekenntnisschriften der reformatorischen Kirchen. In der Gegenreformation der Kirche Roms im Verlauf der 25 Sitzungen des Konzils von Trient (1545 – 1563) stellte sich die katholische Kirche nicht nur gegen das biblisch-reformatorische Bekenntnis, sondern sie bestätigte nochmals die eigenen irrigen Lehrauffassungen – etwa den Marienkult, die Ablasslehre u.v.m. Die Gegensätze der katholischen Dogmatik zur reformatorischen Rechtfertigungslehre, wie sie im Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) und anderen reformatorischen Bekenntnisschriften dargelegt wurde, könnten nicht größer sein. „Was die CA IV (Confessio Augustana, Artikel 4: Von der Rechtfertigung) als Wahrheit lehrt, muss Trient als Häresie ausschließen, und umgekehrt – was Trient als rechte Lehre fordert, muss CA IV als ein anderes Evangelium ablehnen“ (62, Hervorhebung durch den Rezensenten).

Die historische Lehrauffassung der Kirche Roms wurde bis heute nicht revidiert, sondern gibt die „aktuell gültige römisch-katholische Lehre“ wieder (63). Damit bleibt der Widerspruch zur Rechtfertigungslehre der Schrift, dem Herzstück des Evangeliums, unauflöslich erhalten. Auf dem sündenverlorenen Menschen ruht Gottes Zorn. Die ewige Verdammnis ist die unausweichliche Konsequenz des Menschseins. Doch Gott eröffnet einen Ausweg: Das Evangelium Jesu Christi, das Gottes Kraft ist, weil „es die Gerechtigkeit Gottes offenbart und damit den Verlorenen zugänglich macht“ (73). Diese Botschaft des Heils allein durch Glauben und Gnade und allein durch Christi Erlösungswerk am Kreuz ist „der einzige Rettungsweg durch den verlorene Sünder dem gerechten Verdammungsurteil des heiligen Gottes entkommen und seiner Begnadigung gewiss werden können“ (73).

Gottes Heiligkeit und Liebe wird im Kreuz geoffenbart, wo das Wunder der Erlösung sichtbar wird. Das vollkommene Sühnopfer Jesu Christi unterscheidet sich von allen heidnischen Religionen, da es die Vollkommenheit von Gottes Wesen (Reinheit, Heiligkeit) verdeutlicht. Der Autor legt dar, wie hingegen Hans-Joachim Eckstein und Hans Peter Royer dieses biblische Sühneverständnis verdunkeln. Statt dem entschiedenen Widerspruch etwas entgegenzusetzen, übernehmen viele Evangelikale mittlerweile die neuen Thesen zum stellvertretenden Sühnetod Christi.

Neue Paulus Perspektive und Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre

Auch die Neue Paulus Perspektive (NPP) des anglikanischen Bischofs N. T. Wright als Gegenkonzept zum reformatorisch-biblischen Verständnis wird vom Autor gründlich widerlegt (S. 111 ff). Wolfgang Nestvogel kommt zu dem Schluss: „Die NPP geht von einer Fundamentalkritik am Rechtfertigungsverständnis der Reformatoren aus. Dagegen setzt sie eine völlig neue Füllung der zentralen biblisch-theologischen Begriffe und Konzepte. Daraus folgt im Ergebnis ein umfassend verändertes Verständnis der ‚Rechtfertigung‘ und damit auch des Evangeliums …“ (147). Es handelt sich letztlich um einen „Totalangriff auf die Substanz des Evangeliums“ (155). Damit geht die „Entschärfung des konfessionellen Gegensatzes in der Rechtfertigungslehre“ einher (ebd.).

Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen lutherischem Weltbund und der römisch-katholischen Kirche im Jahre 1999 fand auch bei vielen Evangelikalen regen Zuspruch. Für andere, etwa für die Bekenntnisbewegung Kein Anderes Evangelium, stellte sie indes einen Verrat an der Reformation dar. Das „Gemeinsame Wort“ der katholischen und evangelischen Kirchen im Reformationsjahr 2017 zeigt nur zu deutlich die „theologische Selbstentblößung“ der EKD, bei der man fast den Eindruck hat, die Reformation könne einfach so wieder rückgängig gemacht werden.

Faule Hände werden ein böses Jahr haben

Während nicht nur Protestanten sondern in wachsendem Maße auch die Evangelikalen den Schulterschluss mit der Kirche Roms anstreben, hält eine Minderheit sowohl des protestantischen Mainstreams als auch der Evangelikalen unbeirrt an der biblischen Lehre der Rechtfertigung fest. Wolfgang Nestvogel hat es in diesem Buch verstanden, die biblische Lehre der Rechtfertigung und der damit untrennbar verbundenen Lehre des stellvertretenden Sühnetodes Christi fundiert dazulegen. Die Reformation brachte keine neue Lehre, sondern entdeckte die biblische Wahrheit der Rechtfertigung neu und stellten sie über Jahrhunderte in den Mittelpunkt der evangelischen Lehre und Predigt.

Heute zeigt sich allerdings, dass selbst evangelikale Christen, die ihren Glauben auf das „Evangelium“ stützen, allzu leicht von jedem Wind der Lehre hin- und hergetrieben werden. Das Buch von Wolfgang Nestvogel bietet einen guten Einblick in die gegenwärtige Diskussion um die Rechtfertigung und in die theologiegeschichtlichen Hintergründe der Reformation. Der Autor orientiert sich dabei stets an den Aussagen der Schrift, an der sich alle theologischen Neuerungstendenzen messen lassen müssen.

Die Rechtfertigungslehre ist das Herz des Evangeliums und die Identität jedes wahren Christen. An dieser Frage scheiden sich die Geister. Wahrer Christ kann ein Mensch letztlich nur sein, wenn er dieses zentrale Anliegen der Schrift durch den Heiligen Geist im Glauben be- und ergriffen hat. An diesem Wort der Wahrheit gilt es festzuhalten. Der Reformator Martin Luther sagte über sein Land und seine Zeit: „Ich denke, dass Deutschland noch nie so viel von Gottes Wort gehört hat wie jetzt; man liest wenigstens nichts anderes in der Geschichte. Lassen wir’s denn so hingehen ohne Dank und Ehre, so fürchte ich, wir werden noch gräuliche Finsternis und Plage erleiden. … Denn das sollt ihr wissen, Gottes Wort ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Juden gewesen, aber hin ist hin, sie haben nichts mehr davon. Paulus brachte ihn nach Griechenland, hin ist auch hin, nun haben sie den Türken. Rom hat ihn auch gehabt, hin ist hin, sie haben nun den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, dass ihr ihn ewig haben werdet, denn der Undank und die Verachtung wird ihn nicht bleiben lassen. Darum greift zu und haltet fest, wer greifen und halten kann: Faule Hände werden ein böses Jahr haben“ (WA 13,10ff., EA 22, 175ff.).

Wahre Christen stellen das Licht des Evangeliums nicht unter den Scheffel sondern auf den Scheffel, weil sie in Dankbarkeit der geoffenbarten Gnadenbotschaft allein die Ehre Gottes suchen. Die Wahrheit von der Rechtfertigung des Sünders durch einen gnädigen Gott war für Luther ein Platzregen. Daran gilt es festzuhalten, denn: „Lassen wir’s so hingehen ohne Dank und Ehre, so fürchte ich, wir werden noch gräuliche Finsternis und Plage erleiden.“

Wolfgang Nestvogel, Wann ist ein Christ ein Christ? – Der Kampf um die Rechtfertigung, EBTC, Berlin 2017, 248 Seiten, 12,90 €.

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