In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts sponserte die amerikanische Calvin Foundation eine Reihe von Beiträgen zum Thema „Die Reformatoren und ihre Stiefkinder“ (The Reformers and Their Stepchildren). Ziel dabei war die Auswertung der zahlreichen Quellen zur Beziehung zwischen den Reformatoren und dem „linken“ Flügel, den Radikalen der Reformation.
Der Autor stellt sich klar auf die Seite des linken Flügels. Verduin bekennt (S. 276):
In diesem Band bekommen die Radikalen der Reformation eine freundlichere Behandlung, als sie es insbesondere in der reformatorischen Tradition gewohnt sind. Es gibt zwei Gründe für diese sympathisierende Behandlung: Einer davon ist, dass viele Positionen der Stiefkinder der Reformation mit der Zeit in die reformierte Bewegung aufgenommen wurden. Zudem kann man sehr gut von ihnen reden, bis man ebenso eines Vorbehalts schuldig wird, wie diese, die böse von ihnen sprachen (eigene Zusammenfassung).
Stiefkinder der Reformation, diesen Titel gibt der Autor den „ketzerischen“ und „schwärmerischen“ (hier sind die Anführungszeichen bewusst gesetzt, da beide Begriffe denunzierend verwendet wurden) Strömungen in der Reformationszeit. Kinder der Reformation waren diese insoweit, dass sie mit den Prinzipien und Wahrheiten der Reformation im Einklang standen. So z.B. mit den Solas der Reformation. Jedoch waren ihre zusätzlichen Forderungen nicht erst in der Reformation entstanden. Viele ihrer Ideen, z.B. in ihrer Forderung zur Trennung von Staat und Kirche, waren so alt wie die Kirchengeschichte, wie schon die Denunziation der Wiedertäufer als “Donatisten” (eine frühkirchliche Bewegung) zeigt. Ein sakraler Staat, wie es z.B. das Volk Israel im alten Testament war, wurde abgelehnt. Ein sakraler christlicher Staat wurde vom Kaiser Konstantin begründet, als er sich zum Oberhaupt der katholischen Kirche ernannte. Ab diesem Zeitpunkt gab es kein Nebeneinander (mit Einschränkung weniger Jahre der Rückeroberung heidnischer Mächte) von Heiden und Christen in „christlichen“ Ländern bis in die Neuzeit. Eine endgültige Trennung von Staat und Kirche ist eigentlich ein Ergebnis geradezu neuester Geschichte. In vielen katholischen Ländern (z.B. Spanien) ist diese gar erst im letzten Jahrhundert geschehen.
Der Autor untersucht unterschiedliche Beschimpfungen, die die Wiedertäufer erfahren mussten, und den theologischen Konflikt, der hinter solchen Verunglimpfungen chiffriert wurde.
Das Staat und Kirche, Magistrat und christliche Versammlung in der europäischen Geschichte eins waren, wird am deutlichsten am Begriff “Gemeinde”, der bis heute die Versammlung der Gläubigen wie auch eine Bezeichnung für eine Ortschaft unter Selbstverwaltung darstellt. Im Mittelalter waren die Einwohner einer Stadt auch Mitglieder der selben Gemeinde. Hier waren keine zwei Begriffe nötig. Die Stiefkinder der Reformation lehnten diese Zusammenführung als unbiblisch ab. Zwar war das Volk Israel sakral, jedoch sah man dieses durch das Neue Testament als obsolet an, denn hier bestand die christliche Gemeinde aus freiwilligen Mitgliedern. Deswegen wurden sie als Donatisten bezeichnet. Die Donatisten waren eine Bewegung von Christen zur Zeit Konstantins, die mit der Verstaatlichung der Kirche nicht mitgehen wollten. Der Autor bezeichnet diese Haltung der Verquickung von Staat und Kirche übrigens als Sakralismus. Viele Kulturen vor dem Christentum waren sakral, so auch die römische Kultur. Für die römische Regierung war es deswegen hinnehmbar, den Sakralismus beizubehalten, und mit christlichen Elementen zu versehen.
Bei der weiteren Analyse fällt auf, wie gravierend die Einführung einer christlichen Leitkultur war. Im Sakralismus greift der Staat auch ein, um die Kirche zu schützen. So war es für alle selbstverständlich, dass der Staat „Ketzer“, also ausgeschlossene Christen, mit dem Tode bestraft, denn wohin sollte man mit jemanden, der nicht mehr Teil eines Staates ist. Das Mittelalter gebrauchte eifrig die Hilfe des Staates, um sich der „Ketzer“ zu entledigen. Eine Idee die von Augustin stark promoted wurde, und zu der sich Calvin folgendermaßen äußerte:
Daher darf es niemandem mehr zweifelhaft sein, dass die bürgerliche Gewalt ein Beruf ist, der nicht nur vor Gott heilig und rechtmäßig, sondern auch im höchsten Maße geweiht und im ganzen Leben der Sterblichen von allen bei weitem der ehrenvollste ist. (Institutio IV, 20:4)
Man würde sich wünschen, solche Aussagen von Calvin nicht zu finden. Beza ging in seinen Bemühungen weiter. Die Reformatoren betonten immer wieder, dass Konstantin zwar ein gutes Beispiel war, aber in seinem Sakralismus nicht weit genug ging. Deutlich wird dies an der Todesstrafe des Servetus. Der Autor zeigt deutlich auf, dass keine andere Interpretation möglich ist, als die, dass die Reformatoren Genfs die Hilfe des Magistrats in Anspruch nahmen, um sich eines unangenehmen Widersachers zu entledigen. Vor allem Beza war hier ein unangenehmer Genosse. Zur Rechtfertigung der Verbrennung von Servetus führt er aus:
Mit welcher Kraft brachte Petrus den Tod zu Ananias und Saphira? Und mit welcher Kraft machte Paulus den Elimas blind? War es die Kraft, die in der Kirche ruhte? Natürlich nicht. Dann muss es die Kraft sein, die dem Magistrat gegeben ist, denn es gibt keine dritte Art von Kraft. (S. 54)
Ein jämmerlicher Verteidungsversuch, dem Beza aber tatsächlich noch mit weiteren Aussagen die Krone aufsetzte. So verfasste er eine ganze Schrift, die die Todesstrafe gegen Ketzer empfiehlt, die später in den reformierten Gemeinden Hollands großen Einfluss hatte.
Verduin beschreibt außerdem noch weitere erbarmungslose Verfolgungen vor allem in den Niederlanden durch die reformierte Kirche. Diese harte Position gegenüber den Wiedertäufern hat sich bis heute im Artikel 36 des belgischen Bekentnisses gehalten. Dort heißt es:
Deshalb verabscheuen wir die Anabaptisten und alle Aufrührer, welche Oberhoheiten und Obrigkeiten abwerfen, Recht und Gericht verkehren, alle Güter gemeinschaftlich machen und Stand und Rang, die Gott um der Ehre willen unter den Menschen eingesetzt hat, abschaffen und vermengen.
Warum man Bekenntnisse nicht revidieren möchte, blieb mir immer schleierhaft. Bewegungen die sich pazifistisch aussprachen, wurden als „Stäbler“ diffamiert, weil sie lieber den Hirtenstab als das Schwert in der Hand eines Christen sehen wollten.
Eine staatliche Kirche kennt keine Freiwilligkeit in der Mitgliedschaft und entsprechend auch keine Gemeindezucht. Kreise, die diese forderten, wurden als Ketzer der Vollkommenheit, oder Katharer diffamiert. Gemeindezucht ist in einem sakralen Staat nicht möglich. Der Sakralismus befördert zu dem die Förderung von Ritualen und Zeremonien und verdrängt die Wirkung des Wortes. Am deutlichsten ist dies an einer lateinischen Messe zu sehen, in der zwar Christus geopfert wird, aber die Zuhörer nichts verstehen. So dass die lateinischen Worte „ dies ist mein Leib (hoc est einim corpus meum)“ vom unverständlichen Volk als „Hokus Pokus“ verstanden wurde, bis heute ein verwendeter Begriff für mysteriöse Verwandlungen.
Der Sakralismus braucht auch einen mächtigen Zeromonienmeister oder den Haushalter über die Mysterien, deswegen kennt die katholische Kirche die übermächtigen Befugnisse eines Priesters/Geistlichen im Vergleich zum „Fußvolk“. Auch dem stellten sich die Wiedertäufer entgegen und wurden somit als Sakramentschwärmer verunglimpft. Denn diese wollten ungelehrt predigen. Dass man aber diesen jeglichen Zugang zu Bildung verwehrte, im selben Zug aber ihre Einfachheit und Einfältigkeit verspottete, dass übersah man natürlich gerne.
Wenn Staat und Kirche eins sind, gibt es keine christliche Fürsorge, Geschwister die zu einander halten, waren natürlich „Kommunisten“. Schließlich aber braucht man in einem Land der christlichen Zeremonien seinen Glauben nicht in der Öffentlichkeit zu bekennen. Wer das tat, war natürlich ein „Wiedertäufer“. Luther ließ sich diesbezüglich zu dieser unnötig harten Aussage verleiten:
Wie könnte man die Taufe höher schänden und lästern, denn das es keine wahrhaftig gute Taufe sein sollte, die einen ungläubigen gegeben wird? … Darum das ich nicht glaubte, so sollte die Taufe nichts sein? … Was könnte doch der Teufel Ärgers und Lästerliches lehren oder predigen? Noch sind die Wiedertäufer und Rottengeister mit dieser Lehre erfüllt. Aber ich setze, das ein Jude die Tauf annähme (wie es oft pflegt zu geschehen) und glaubte nicht, so wollest du sagen: Die Taufe ist nicht recht, den er glaubt nicht. Das hieße nicht allein mit der Vernunft genarrt, sondern auch Gott gelästert und geschändet?
An einer anderen Stelle wird deutlich, dass die Reformatoren den Einwänden des linken Lagers oftmals nicht den nötigen Respekt entgegen brachten. Man war äußerst voreingenommen. Oftmals genügten Vorurteile. So wurden Menschen deswegen verbrannt, weil sie aus einer teuflischen Flasche getrunken haben, die Menschen dämonisiert (gemeint ist natürlich die Weinflasche die zu einem heimlichen Herrenmahl versteckt unter dem Mantel gebracht wurde). Man ging oftmals den Ursachen nicht nach, und nahm die Antworten der Wiedertäufer nicht ernst genug. Grotesk wurde die Situation, als eine Frau deswegen auf den Scheiterhaufen kam, weil sie sich der Vergewaltigung durch einen Priester entziehen wollte. Für Heiligung und Wachstum im Glauben ist in einem Sakralstaat kein Platz. Für Christliche Mitarbeit und reife Leitung ist im Sakralismus kein Model, denn die Kirche wird von unwiedergeborenen Menschen überrannt. Müßig ist es, – was die Reformatoren taten -, als Rechtfertigung für all diese Missstände das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen zu bemühen.
Erst als man sich vor allem in der neuen Welt, vom Sakralismus distanzierte, kamen Fragen wie Mission auf. Denn ein sakraler Staat kennt keine Evangelisation, ein Amt, das Sünder außerhalb der Gemeinde zur Buße ruft, ist diesem unbekannt. Eine Rehabilitation der Wiedertäufer ist dringend nötig, waren doch die sieben geforderten Schleitheimer Artikel sinnvoll: Gläubigentaufe (Ablehnung der Säuglingstaufe), Kirchenzucht (Bann bei Verfehlungen), Brotbrechen (Abendmahl) als Zeichen der Gemeinschaft, Absonderung von der „Welt”, Freie Wahl des Hirten/Seelsorgers, Ablehnung des Wehrdienstes, Verweigerung des Eides. Ich persönlich stehe zu allen, aber auch wenn man in einzelnen Punkten anderer Meinung ist, ist keiner dieser Punkte eine Ketzerei. Für die Reformatoren waren aber alle sieben Einwände ketzerischer Natur. Hier hat man klar unfair und mit mittelalterlichen Methoden gearbeitet. Wenn die Wiedertäufer irgendwo Toleranz erfuhren, so war es nicht dem Einsatz der Protestanten zuzuschreiben, sondern dem Humanismus der Renaissance.
Die Messe ist ein weiteres Beispiel, wie in einem sakralen Staat Elemente der christlichen Gemeinschaft in einem Liebesmahl zu einem alle Bürger umfassenden Element verfasst wurde. Ich gebe dem Autor auch recht, dass die „Bundestaufe“ ein Relikt einer sakralen Gesellschaft ist, so hart sich das für einige Leser dieses Blogs anhören mag. (Dieser Punkt ist auch nicht zentral in seinen Ausführungen, und sollte Christen, die an der Bundestaufe festhalten möchten, nicht vom Lesen des Werkes abhalten.) Ich gebe jedoch zu, dass es recht schwer ist, als Gemeinde in der Welt zu sein, aber nicht von der Welt zu sein. Der Autor schreibt dazu (S. 276)
Die Geschichte der Kirche ist zu einem großen Teil die Geschichte der Spannung zwischen zwei extremen Tendenzen: Die eine Extreme hält so viel von dem Prinzip „in der Welt“, dass die Kirche ihre Identitität verliert; das andere Extrem hält so viel von dem Prinzip „nicht von der Welt“, dass die Kirche irrelevant wird.
Der Autor arbeitet vorbildlich und fügt für jedes Zitat eine Quelle an. Das Buch ist für mich eine der Neuentdeckungen dieses Jahres und hat meinen Blick auf die Geschichte der Reformation geweitet. Durch zahlreiche detaillierte Beschreibungen ist es ein hervorragendes aber anspruchsvolles Werk! Herausfordernd ist Verduin für all jene Protestanten, die sich immer mehr vom Wort verabschieden und einen schlichten Gottesdienst ersetzen durch Show, Zeremonien und vielerlei Rituale.
Das Buch ist über Amazon erhältlich.
Danke für den aufschlussreichen Artikel. Mir scheint, dass das reformierte Lager zu wenig Selbstkritik übt.