Das gigantische Geheimnis der Christen
Gilbert Keith Chesterton (1874−1936), britischer Literat von Weltrang, fesselt immer wieder meinen Geist. Wie anregend seine Gedankengänge wirken, merkte ich daran, wie oft ich meiner Frau einzelne Highlights aus seinem Buch weiter erzählte. Dass ich das Buch mehrmals las, zeigte mir auf der einen Seite, dass sich meine Gehirnwindungen erst an das Unvertraute gewöhnen mussten. Auf der anderen Seite wurde mir dadurch bewusst, dass ich „echte Nahrung“ zum Verdauen vorfand. Es gibt verschiedene Zugänge zu diesem Buch: Der sinnvollste ist das lustvolle, neugierige, herantastende Lesen. Anspruchsvoller gestaltet sich das aufmerksame Suchen nach Chestertons eigenem rotem Faden, auf den er immer wieder zu sprechen kommt. Nochmals eine Ebene herausfordernder ist das systematische Darstellen seiner Argumente. Bei dieser Buchvorstellung habe ich mich für eine Mischung aus den ersten beiden Ansätzen entschieden.
Wie betrachtete Chesterton selbst diese Schreibarbeit? Es gehört zu seinen Eigenheiten, sich immer wieder darauf zu beziehen. (Dabei betreibt er keine Nabelschau, sondern zeigt Humor im Umgang mit sich selbst. Während er sich seiner Sache sicher ist und keinen Hehl daraus macht, nimmt er sich selbst nicht zu wichtig. 1) Chesterton meint am Anfang des einleitenden Kapitels, dass er keine logische Folge von Argumenten entwickeln wolle, sondern sein Werk als Abfolge von Bildern sehe. Auslöser war der Vorwurf, mit dem ersten Buch „Ketzerei“ (ebenfalls neu aufgelegt; insel-Taschenbuch 2011) nur gegen andere Denkkonzepte geschossen, den eigenen Standpunkt jedoch nicht erläutert zu haben. Was war sein Grundanliegen? Man könnte es so zusammenfassen: Chesterton schickte sich an, nach Unvertrautem zu forschen, um auf seiner Reise Vertrautes vorzufinden. Er vergleicht dies mit der Entdeckung Englands:
„Ich habe oft daran gedacht, einen Abenteurerroman über einen englischen Seefahrer zu schreiben, in dessen Kursberechnung sich ein kleiner Fehler einschleicht, weshalb er England entdeckt, während er meint, es handele sich um eine unbekannte Insel in der Südsee… Mein Beispiel von dem Seefahrer, der England entdeckt, hat seinen guten Grund. Denn der Seefahrer bin ich. Ich habe England entdeckt. … Ich bin der Mann, der mit grösstem Wagemut entdeckte, was längst entdeckt war. … Wie all die anderen todernsten kleinen Buben habe auch ich versucht, meinem Zeitalter voraus zu sein. Und dabei musste ich feststellen, dass ich achtzehnhundert Jahre hinterherhinkte. … Der Seefahrer in seinem Schiffchen hielt sich für den Entdecker Englands; ich hielt mich für den Entdecker Europas. Ich strebte danach, eine Ketzerei zu finden, die mir passt, und kaum hatte ich ihr den letzten Schliff gegeben, musste ich feststellen, dass es die Orthodoxie war.“
Chesterton bemühte sich dabei nicht um „die Antwort auf die Frage, ob der christliche Glaube annehmbar ist, sondern, wie ich selbst dazu gekommen bin, ihn anzunehmen“.
Zur Routine eines Meisters gehört die Gewohnheit von Chesterton, gängige Denkmuster umzukehren. Meine übliche Reaktion beim Stolpern war ein kurzes Innehalten: „Wie war das nochmal, bitte“? Und dann liest du es nochmals und schmunzelst. Zwei Beispiele: Im ersten Kapitel entlarvt Chesterton Menschen, die an sich selber glauben. Ob er denn wisse, wo sich die „Leute befinden, die ich am meisten an sich glauben? Ich kann es Ihnen sagen. …. Ich weiss, wo der Fixstern des Selbstvertrauens und der Erfolgsgewissheit am hellsten glüht. Ich kann Sie zu den Thronen der Übermenschen führen. Die Menschen, die an sich glauben, stecken alle in Irrenanstalten.“ (S. 37−38)
Man lese weiter und finde bei der Gegenüberstellung des Verrückten und des anscheinend vernünftigen Deterministen diese Aussage:
„Der Verrückte ist nicht der Mann, der seinen Verstand verloren hat. Der Verrückte ist derjenige, der alles verloren hat, nur nicht seinen Verstand.“ (S. 47)
Oder nimmt es dich wunder zu erfahren, worin die herausragende Eigenschaft einer liebenden Ehefrau besteht?
„Dieselben Frauen, die ihre Männer um jeden Preis in Schutz nehmen, beweisen (im privaten Umfeld) eine fast schon krankhafte Hellsichtigkeit, wenn es um die Fadenscheinigkeit seiner Ausflüchte oder um seinen Dickschädel geht. Dein Freund liebt dich, aber lässt dich, wie du bist; deine Frau liebt dich und ist ständig bestrebt, dich umzukrempeln. (…) Wer inbrünstig liebt, hat freie Hand, Kritik am Geliebten zu üben; der Fanatiker kann getrost Skeptiker sein. Liebe ist nicht blind; das ist sie am allerwenigsten. Liebe ist hörig; und je höriger sie ist, umso schärfer hört sie hin.“ (S. 142−143)
Die Unzulänglichkeit attraktiver zeitgenössischer Denksysteme entlarven, darum geht es Chesterton im zweiten Kapitel. Besondere Brisanz für die Gegenwart haben seine Worte über den Skeptizismus. Chestertons spitze Feder entspringen einige wahrlich treffende Bemerkungen. Der Skeptiker habe in Zeiten des Ich-Kults Hochkonjunktur:
„Es gibt eine Form der Skepsis, die weit fürchterlicher ist als die Überzeugung, dass die Materie der Anfang von allem ist. Ich denke an den Skeptiker, der die Überzeugung hegt, dass er selbst der Anfang von allem ist. Er zweifelt nicht an der Existenz von Engeln und Teufeln, sondern daran, dass es Menschen und Kühe gibt. Für ihn sind seine eigenen Freunde Märchengestalten, die er selbst er dichtet hat. Vater und Mutter sind seine eigenen Geschöpfe. Diese schreckliche Phantasterei übt auf den geradezu mystischen Ichkult unserer Tage einen unverkennbaren Reiz aus.“ (S. 59)
Einige Zeilen später beschreibt Chesterton, was die langfristigen Folgen eines solchen Denkansatzes sein können:
„Wenn dann die ganze freundliche Welt, die diesen Skeptiker umgibt, als Lüge entlarvt ist, wenn die Freunde zu Gespenstern verblasst sind und die Welt bodenlos geworden ist und er, der an nichts und niemanden glaubt, allein in seinem Alptraum zurückgelassen bleibt, dann wird in rächender Ironie das grosse Motto seines Individualismus über seinem Haupt geschrieben stehen. Die Sterne werden zu blossen Leuchtpunkten in der Finsternis seines Gehirns; seine Mutter wird nichts als eine flüchtige, seinem Wahn entsprungene Erscheinung an der Wand seines Kerkers sein. Über seinem Kerker aber wird die grauenvolle Wahrheit geschrieben stehen: ‚Er glaubt an sich.‘“ (S. 60)
In seinen Erörterungen zur Demut schreibt er von der falschen Bescheidenheit des Skeptikers:
„Wir sind auf dem besten Weg, ein Geschlecht hervorzubringen, das so bescheiden ist, dass es nicht einmal mehr an das Einmaleins glaubt. Uns drohen Philosophen, die am Gravitationsgesetz zweifeln und den Verdacht hegen, es handele sich dabei um ein blosses Hirngespinst ihrer selbst. Früher waren die Spötter zu stolz, um sich überzeugen zu lassen; heute hingegen sind sie zu bescheiden, um sich eine Überzeugung zuzutrauen.“ (S. 71)
Konsequent zu Ende gedacht, zielt der Skeptizismus am allermeisten auf das, was er eigentlich als unbedingt schützenswert ansieht – den Verstand.
„Ist man bloss Skeptiker, so drängt sich einem früher oder später die Frage auf: ‚Warum sollte irgend etwas zutreffen, empirische Beobachtung und logisches Denken eingeschlossen? Warum sollte logische Stringenz weniger irreführend sein als logische Ungereimtheit? Spielt sich doch beides im Gehirn eines verwirrten Grossaffen ab.’ Der junge Skeptiker erklärt: ‚Ich habe ein Recht darauf, selbständig zu denken.’ Der alte Skeptiker, der vollkommene Skeptiker, aber sagt: ‚Ich habe kein Recht auf selbständiges Denken. Ich habe überhaupt kein Recht auf Denken.’“ (S. 73)
Dann verlässt Chesterton „das erste und langweiligste Geschäft dieses Buches – den grossen Überblick über das Denken unserer Zeit.“ (S. 90−91) Er geht daran, eine andere Sicht des Lebens zu umreissen. Das nächste Kapitel “Die Ethik des Elfenlandes” gehört zu den Höhepunkten innerhalb des Buches. So beginnt das Kapitel mit der eindrücklichen Lektion, die ein älterer, desillusionierter Menschen einem Jungen erteilt:
„Wenn der Bürovorsteher seinem Laufburschen dessen idealistischen Überschwang verweist, dann tut er das gewöhnlich mit folgenden Worten: ‘Ja, ja, solange man jung ist, hat man diese Ideale und baut sich seine Luftschlösser; aber ist man erst im gesetzteren Alter, zerplatzen sie wie Seifenblasen, und man steigt herunter in die Niederungen praktischer Rücksichten und bequemt sich dazu, mit dem zu arbeiten, was man hat, und die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.’ So jedenfalls unterwiesen mich in meiner Kindheit ehrwürdige, menschenfreundliche alte Männer, die schon lange im Frieden unter der Erde ruhen. Mittlerweile aber bin ich ein erwachsener Mensch und habe herausgefunden, dass sie die Unwahrheit sagen. Passiert ist nämlich das genaue Gegenteil von dem, was sie vorausgesagt hatten. Sie behaupteten, ich würde meine Ideale verlieren und mich dem Pragmatismus ergeben. Meine Ideale habe ich indes ganz und gar nicht verloren; meine Grundüberzeugungen sind mir unverändert erhalten geblieben. Eingebüsst habe ich vielmehr meinen kindlichen Pragmatismus. (…) Nein, Visionen sind immer etwas Solides und Zuverlässiges. Visionen sind stets Tatsachen. Die Wirklichkeit ist es, dass deren Sein sich häufig als Schein entpuppt.“ (S. 95−96)
Es ist unglaublich, mit wie vielen Menschen ich an der Arbeit täglich zu tun habe, die in die „Niederungen praktischer Rücksichten“ hinabgestiegen sind. Chesterton ist einen anderen Weg gegangen.
„Woran ich damals felsenfest glaubte und bis heute unbeirrt glaube, das sind die sogenannten Märchen. Mir erscheinen sie als der Inbegriff des Vernünftigen.“ (S. 101)
Er hat nicht nur seine Vision behalten, vielmehr ist ihm das Staunen über das Gewöhnliche erhalten geblieben.
„Dieses elementare Staunen über das Wunder der Welt ist, wohlgemerkt, keine blosse Marotte, die ich mir durch die Märchen zugelegt habe; alle Faszination, die von den Märchen ausstrahlt, entspringt im Gegenteil diesem Staunen.“ (S. 109)
Ebenso verhält es sich mit dem Glauben an Wunder:
„Wenn wir nicht mit dem Wunder rechnen, so nicht, weil es dein Ding der Unmöglichkeit ist, sondern weil es die Ausnahme bildet.“ (S. 107)
„Die stärkste Emotion war die, dass mir das Leben ebenso köstlich wie staunenserregend erschien.“ (S. 111)
Das Bewusstsein, dass die Welt voller Überraschungen steckt, führt zur Bescheidenheit, die sich „auch den abstrusesten Einschränkungen“ fügt (S. 118). Kurzum entdeckte Chesterton hinter dem grossartigen Universum einen Sinngeber (S. 130). Und: In seinem Geist „setzte sich der Eindruck fest“, dass alles Gute in der Welt als Überbleibsel von einem ursprünglichen Zusammenbruch herrühre.
Ich merke, wie ich zusehends ins Schwärmen und dadurch ins Detail gekommen bin. Es erscheint mir unumgänglich, Chesterton selbst zu Wort kommen zu lassen. Was er über Pessimisten und Optimisten schreibt, gehört ebenfalls in die Kategorie „hochaktuell“.
„Kann ich, kurz, nicht nur gleichzeitig Pessimist und Optimist, sondern mehr noch fanatischer Pessimist und fanatischer Optimist sein? Bin ich Heide genug, um für die Welt zu sterben, und Christ genug, um für sie tot zu sein?“ (S. 145)
Noch viele weitere Paradoxien gehören zum Christentum. Chesterton zählt im Kapitel „Die Paradoxa des Christentums“ einige davon auf. Es ist zu pessimistisch, wenn sie dem Menschen seine absolute Autonomie nimmt, und zu optimistisch, wenn sie über das Leben nach dem Tod spricht. Die einen belustigen sich über die Bescheidenheit und Gewaltlosigkeit, die anderen mokieren sich über die Aggressivität. Man kann die Aussage treffen, dass das Christentum eine unter vielen Religionen ist, um sich im nächsten Monat über die „veraltete Moral“ auszulassen.
Auch über dem Allerweltwort „Fortschritt“ gelangt Chesterton zu erstaunlichen Schlussfolgerungen. Wie kann man von Fortschritt sprechen, wenn das Ideal sich ständig ändert? Das Christentum stellt nicht nur ein unverrückbares Ideal dar, es kommt zudem einzigartig und kunstvoll daher. Man muss sich direkt in Acht nehmen, nicht davon abzufallen. So beschreibt Chesterton im vorletzten Kapitel dieses Ideal als „Abenteuer (romance) der Orthodoxie“. Es geht um die Ursprungssünde, Wunder, göttliche Transzendenz, Trinität, Hölle und die Gottheit Christi. Er beschliesst das Buch mit der Beantwortung der Frage, warum man das Christentum nicht einfach als Morallehre unter Weglassung alles Übernatürlichen annehmen kann.
„Jedes Bild braucht einen Rahmen.“ Das Buch liefert beides: Einen Rahmen und ein kunstvoll angeordnetes Bild. Es lohnt sich, länger vor diesem Bild stehen zu bleiben und immer wieder dahin zurückzukehren. Die Fe Medienverlag GmbH hat die Lizenz vom Eichborn-Verlag übernommen und eine günstige Version auf den Markt gebracht. In meinem Gestell steht auch die englische Fassung. Obwohl ich mich als geübter Leser englischer Texte einstufe, bin ich um die Übersetzung dankbar. Die Prägnanz und Feinheiten kommen auch in der Übersetzung zum Tragen.
„Freude war das kleine Vorzeigestück des Heiden, sie ist das gigantische Geheimnis des Christen.“ Empfehlung: Gleich einen Vorrat davon einkaufen. So können auch andere Teilhaber der Freude werden.
1 Er nimmt selbst darauf Bezug: „Der Mensch sollte an sich selbst zweifeln, aber doch nicht an der Wahrheit; das hat sich genau ins Gegenteil verkehrt. Heute ist das, worauf der Mensch beharrt, genau der Teil, auf dem er nicht beharren sollte – er selbst. Und das, woran er zweifelt, ist genau der Teil, an dem er nicht zweifeln dürfte – die Vernunft Gottes. … Die alte Demut liess den Menschen an seinen Bemühungen zweifeln und brachte ihn so dazu, sich noch mehr anzustrengen. Die neue Demut hingegen lässt ihn an seinen Zielsetzungen zweifeln und veranlasst ihn damit, seine Bemühungen überhaupt einzustellen.“ (S. 70 – 71)
Hanniel Strebel
Titel: Orthodoxie: Eine Handreichung für die Ungläubigen
Autor: Gilbert K. Chesterton
Seiten: 303
Format: 12 x 20 cm
Einband: Taschenbuch
Jahr: 2011
Verlag: Fe-Medienverlags GmbH
ISBN: 978−3−86357−019−4
Preis: 9,95 EUR
erhältlich bei: Mayersche
Eine Rezension, die wirklich Lust auf das Buch macht! Habe es gleich bestellt! 🙂