Sollte man, oder sollte man lieber nicht? Tony Reinke sagt, man darf und man soll. Man soll als Christ Bücher aus dem Bereich der Belletristik lesen. “Und nicht nur christliche Romane sind wertvoll, sondern auch klassische Romane von Nichtchristen.” Kapitel 9 aus dem Buch Lit! A Christian Guide To Reading Books wird wahrscheinlich die meisten Irritationen, Diskussionen und Widersprüche hervorrufen. Und wer meint, in diesem Kapitel die Legitimation für die Lektüre leichter Romane gefunden zu haben, der hat Reinke sicher falsch verstanden. Doch auch wenn man Reinke versucht richtig zu verstehen, bleiben immer noch Fragen offen. Tony Reinke schildert im 9. Kapitel Literatur ist das Leben – Sich die Vorteile von fiktionaler Literatur erschließen seine Belletristik-Entdeckungsreise. Man kann ihn auf dieser Reise begleiten, nur muss man nicht zu den gleichen Ergebnissen wie er kommen.
Doch fangen wir mit einem Zitat von Leland Ryken – dem “Reiseführer” des Autors – an:
Literatur ist eine Form der Entdeckung, Wahrnehmung, Intensivierung, Ausdrucksweise, Interpretation, Kreativität, Schönheit und des Verstehens. Das sind edle Aktivitäten und Qualitäten. Für einen Christen können sie gottverherrlichend sein, eine Gabe für den Menschen von Gott, die man mit Würze akzeptieren soll.
Tony Reinke entfaltet anschließend diese These. Vor allem zwei Punkte sind mir dabei wichtig geworden.
1. Belletristik kann behilflich sein, abstrakte menschliche Erfahrungen zu erforschen.
“Die besten Romanautoren kleiden unsere gewöhnlichen menschlichen Erfahrungen auf eine Art und Weise in Worte, wie es bei anderen Schreibstilen kaum möglich ist. Man könnte sogar sagen, dass fiktionale Literatur manchmal sogar wahrer ist als nicht-fiktionale. In Romanen besteht die Freiheit sich wegzubewegen von den einzelnen Details der Geschichte [engl. history] hin zum Allgemeinen der menschlichen Erfahrung, insbesondere zu den abstrakten und philosophischen Aspekten wie Liebe, Hass, das Gute und Böse.”
2. Belletristik erweitert unsere Bandbreite an Erfahrungen.
“Literatur führt uns hinein in das Leben und die Erfahrungen, Gedanken und Gefühle von anderen, auch dann, wenn diese Personen als Resultat der wilden Vorstellung eines Autors entspringen. Dabei erweitert Literatur unsere eigenen Erfahrungen und veranlasst uns, Sympathie für andere zu entwickeln.”
Wenn ich die Argumentation richtig erfasst habe, bieten Romane und Erzählungen die Möglichkeit, mehr zu erfahren, als wir je durch reale Begegnungen und eigene Erfahrungen lernen könnten. Dass es durchaus sinnvoll ist, den eigenen Horizont zu erweitern, ist nachvollziehbar. Sympathie und Verständnis für andere Menschen, Kulturen, Länder und Zeiten zu entwickeln, ist dabei mindestens so wertvoll, wie in der Erkenntnis seiner selbst zu wachsen und die Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung von irdischen und sündigen Zwängen aufrechtzuhalten. Damit sind wir aber auch schon beim wichtigsten Argument gegen Romane, Fantasy und Erzählungen. Wie Tony Reinke richtig bemerkt, lässt sich Sünde mit ihrer Auswirkung und Folgeerscheinung dramatischer darstellen und oft ist es gerade das Böse und seine Bekämpfung, das den Spannungsbogen herstellt. Reinke schreibt:
“Das Böse ist dramatisch, leicht zu vermitteln und für den Leser leicht zugänglich. Integrität ist fein [oder: hintergründig], viel schwerer zu vermitteln und entgeht dem Leser oft unbemerkt.”
Ist es erbaulich, nützlich und gut sich so intensiv mit der Sünde zu beschäftigen? Ist nicht Integrität, die Wahrheit und das Gute, wonach wir uns als Christen ausstrecken und wofür wir uns interessieren sollten? Das meint doch Paulus in Philipper 4,8: “Im übrigen, ihr Brüder, alles, was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was irgend eine Tugend oder etwas Lobenswertes ist, darauf seid bedacht!” Doch in vielen Romanen bemühen sich die Autoren seitenweise, mit schillernden Worten das Böse und die Sünde zu beschreiben.
Oder wenn ich das 5. Kapitel im Epheserbrief lese, habe ich den Eindruck, dass Paulus viele Romane kategorisch ablehnen würde:
(3.) Unzucht aber und alle Unreinheit oder Habsucht, soll nicht einmal bei euch erwähnt werden, wie es Heiligen geziemt; (4.) auch nicht Schändlichkeiten und albernes Geschwätz oder Witzeleien, die sich nicht gehören… (11.) …und habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, deckt sie vielmehr auf; (12.) denn was heimlich von ihnen getan wird, ist schändlich auch nur zu sagen.
Tony Reinke erwähnt diese Bibelstellen nicht. Und doch beschäftigt er sich mit dieser Problematik. Wenn Sünde in der Literatur vorkommt, heißt es noch lange nicht, dass der Autor sie befürworten muss. In der Bibel wird Sünde in einigen Fällen auch schonungslos aufgedeckt. Auch Brutalität und Skrupellosigkeit bleibt nicht unerwähnt. Von daher ist weder die Bibel noch das Leben und auch Romane sind nicht frei davon. Es gibt also keine “saubere” Literatur. Literatur ist das Leben, wie es in der Überschrift heißt. Unser Leben sollte zwar frei davon sein, aber das Leben im Allgemeinen ist nicht frei vom Bösen und Ungerechten.
Wie viel Freiheit sollte also ein christlicher Romanautor für die Darstellung von Sünde bekommen? Diese Frage lässt sich schwer beantworten. Wie in so vielen Bereichen des Lebens, müssen auch sensible und anspruchsvolle Leser sorgfältig auf ihr Gewissen hören. (S. 124-125)
Die besten Autoren helfen uns in der Literatur Liebe, Freude, Frieden Geduld, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung zu sehen und zu schätzen (Gal 5,22-23). Als christliche Leser sollten wir mit Geduld lesen und mit der Fähigkeit, die hintergründige Güte Gottes zu schätzen, wenn sie in Erscheinung tritt. (S. 126-127)
Damit sind bei mir zwar nicht alle Fragen beantwortet. Literatur sollte auf jeden Fall nicht über- und auch nicht unterbewertet werden. Und irgendwann kommt wahrscheinlich jeder an den Punkt, wo er entweder für sich selbst oder für seine Kinder entscheiden muss, was gelesen wird. Und gerade in der Schule bleiben die Kinder nicht verschont davor, Bücher von nichtchristlichen Autoren zu lesen. Wie man die Kinder dabei begleitet und ihnen hilft, von der Lektüre zu profitieren, das werde ich noch lernen müssen. Zum Glück sind es bis dahin noch einige Jahre.
Über dieses Thema habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Vor allem in Bezug auf: “Wie viel Freiheit sollte also ein christlicher Romanautor für die Darstellung von Sünde bekommen?”
Die Bibel scheint mir da in der Art, wie sie Sünde schildert, einen guten Hinweis zu geben: Gottes Wort schreibt über Sünde nie so, dass der Leser selbst zur Sünde verführt wird. Trotzdem nimmt sie kein Blatt vor dem Mund.
Zum Beispiel verschweigt sie die Sünde der Hurerei nicht, geht aber auch nicht auf explizite Details ein, sodass die Fantasie des Lesers angeregt wird. Sie schildert die Bosheit und Brutalität des Menschen, weidet sich aber nicht an ihre Gewalttätigkeit – trotz gewisser expliziter Schilderungen.
Gottes Wort vermittelt einerseits nie den Eindruck, dass es dem Autor eigentlich heimlich Freude macht über die Bosheit zu schreiben. Andererseits tut die Bibel auch nie so, als ob es gar keine Bosheit gebe und dies auch kein Thema sein müsse.
Ein christlicher Romanautor hat natürlich die Freiheit, worüber er schreibt. Aber ich weiss nicht, wie erbaulich ein Buch (nach Phil 4,8) ist, wenn es so tut, als gebe es ein Leben voller Sonnenschein und ohne Sünde. Es sei denn, der Christ entscheidet sich, einen Roman über den Himmel zu schreiben. 🙂
Rene, du führst einen wichtigen Gedanken an: Sünde so zu beschreiben, dass sie nicht zur Sünde führt. Und gewisse Datails der Sünde können gerne unerwähnt bleiben. Ich las nämlich vor einiger Zeit einen historischen Roman, in dem die sexuellen Ausschweifungen von Nero so ausführlich und mit so vielen Details versehen wurden, dass mir fast schlecht wurde. Da war für mich die Grenze deutlich überschritten.
Die bestmögliche Vorlage für den Romanautor, wie Böses / Sünde angemessen dargestellt werden kann, ist sicher die Art und Weise, wie der Herr Jesus selbst dies in “Geschichten”, die er erzählt hat, tut. Ich denke z.B. an die Geschichten über den barmherzigen Samariter (Luk. 10,30ff) und den verlorenen Sohn (Luk. 15,11ff), die Gleichnisse vom Unkraut im Acker (Mat. 13,24ff) oder von dem Weinbergbesitzer, der seinen Weinberg verpachtet (Mat. 21,33ff). In fast jeder Geschichte / jedem Gleichnis gibt es etwas oder jemand Böses, einen Widerstand gegen das Gute. Nur dadurch gibt es überhaupt eine Geschichte, die erzählt werden kann, und einen Spannungsbogen. Und der Herr Jesus setzt diesen Konflikt zwischen gut und böse auch aus rein “handwerklicher” Sicht wahrhaft “meisterlich” ein. Nicht nur über das Wie der Darstellung von Bösem / von Sünde, sondern auch über das “Handwerk” des spannenden Erzählens kann jeder (Roman-)Autor vom Herrn Jesus lernen. – Diesen Maßstab wird sicher selbst der beste Autor nie erreichen, aber diesen Maßstab sollte er anstreben.
Es läuft darauf hinaus, die Bibel als ultimative Norm und Messlatte für das Schreiben zu akzeptieren. Ein christlicher Romanautor sollte also ein Bibelleser sein. Das ist so einfach. Doch wenn man anfängt zu schreiben, ist es wahrscheinlich sehr herausfordernd, wie Jesus zu denken und die eigenen Ideen gottgemäß zu verschriftlichen. Richard Kilian, danke für deine Gedanken!