Ketzer: Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit

56265838Gilbert Keith Chesterton. Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit. Insel: Berlin, 2012. 263 Seiten. Euro 9,99.

Das Interesse am Buch

… befiel mich unmittelbar nach der Lektüre der Pater Brown-Geschichten. Wenn ich Chesterton lese, beschleicht mich ein Heimatgefühl. Dieses ist schwierig zu beschreiben, es ist eine Mischung aus Wohlgefühl und Vertrautheit, Anregung und Irritation. Wie bei anderen Werken las ich im ersten Anlauf einen Teil, um es später wieder hervorzuholen und fertig zu lesen. Mittlerweile geht es mir so, dass ich nach einer Reihe anderer Werke plötzlich denke: „Jetzt muss ich wieder einmal etwas von  Chesterton lesen.“ Das Buch gehört sicherlich zur engen Auswahl an Werken, die ich lebenslang immer wieder einmal hervorhole.

Um was geht es?

Chesterton schrieb die zwei Werke „Orthodoxie“ und „Ketzer“ in enger Verbindung. Wie er im Vorwort zu „Orthodoxie“ erwähnt, warfen ihm seine Gegner vor, in „Ketzer“ nur GEGEN Dinge geschrieben zu haben. Er solle doch nun erklären, wofür er einstehe. Das Buch lebt von der „Kraft, nicht mit anderen übereinzustimmen“ (246).

Das erste Kapitel „Einleitende Bemerkungen zur Bedeutung von Orthodoxie“ und das letzte „Schlussbemerkung: Warum ist Orthodoxie so wichtig?“ geben Aufschluss über Absicht und These. Chesterton schrieb im „fin de siècle“, am Ende des 19. Jahrhunderts. Seine Bemerkungen müssen im Licht des damaligen Klimas gelesen werden (244).

„Das Wort ‚Ketzerei‘ hat nicht nur nicht mehr die Bedeutung, dass man sich auf dem Irrweg befindet, es heißt praktisch, dass man intelligent und mutig ist. Das Wort ‚Rechtgläubigkeit‘  bedeutet nicht nur nicht mehr, dass man recht hat; es heißt praktisch, dass man im Unrecht ist.“ Es hat also ein fundamentaler Bedeutungswandel stattgefunden. Das wirkte sich auf die Ethik aus: „Das aber kann nur eines bedeuten: dass sich die Menschen nicht mehr groß darum kümmern, ob sie der rechten Lehre anhangen, die richtige Überzeugung haben.“ (11-12) Chesterton hält dagegen: „Das Ungute an der modernen Vorstellung vom geistigen Fortschritt besteht darin, dass er durchweg mit dem Sprengen von Fesseln, dem Beseitigen von Schranken, dem Abschaffen von Dogmen assoziiert wird.“ (242) Genau dasselbe Problem besteht heute noch, und es besteht auch in unseren (Kirch-)Gemeinden. Chesterton bedauert es, dass keine Gesetze gegen Ketzerei existieren, “das heißt gegen die intellektuelle Vergiftung des gesamten Volkes …” (234).

Fortschritt sei aber umgekehrt gerade die verfeinerte Dogmenbildung:

„In dem Mass, wie (der Mensch) Lehrsatz auf Lehrsatz und Schlussfolgerung auf Schlussfolgerung setzt, um die gewaltige Ordnung einer Philosophie oder Religion zu schaffen, wird er … immer mehr zum Menschen.“ (243)

Letztlich kommt niemand ohne Lehrsätze aus.

„Jeder Mann von der Strasse muss ein metaphysisches System vertreten und unerschütterlich daran festhalten. Im äussersten Fall hat er es vielleicht so unerschütterlich und so lange vertreten, dass er vergisst, dass überhaupt eines da ist.“ (255)

Unterscheidungsvermögen weisen wir aber erst dann auf, wenn wir „eine feste Auffassung von dem, was Wahrheit ist, in uns tragen.“ (249) Gerade die „Wut von Menschen, die keine Meinung haben“ (250) ist jedoch gefährlich.

„Die Gleichgültigen waren es, die eigenhändig die Scheiterhaufen anzündeten und die Folterbank bedienten“ (251). „Gerade weil der Mensch ein Ideal braucht, ist jemand ohne Ideale fortwährend in Gefahr, dem Fanatismus heimzufallen.“ (253)

Wie findet man Zugang zum Buch?

Für wen es das erste Buch von Chesterton ist, dem ist anzuraten: Lasse dir Zeit fürs Lesen. Nimm dir kleine Portionen vor. Wenn du einen Satz oder einen Abschnitt nicht verstanden hast, dann nimm ihn dir nochmals vor. Das Buch ist nichts für Schnellleser, auch wenn es einen grossen Schatz an Zitaten und Aphorismen beinhaltet.

Zunächst ist es wesentlich, das Buch eine Sammlung von Essays zu verstehen (siehe S. 257). Um die Thematik zu erfassen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man liest kurz nach, auf welchen Autoren er Bezug nimmt (siehe die Aufführung der erwähnten Autoren im Anhang). Oder man hält in den ersten Sätzen des Kapitels nach dem Thema Ausschau.

Einige Kostproben

  1. Fortschritt nicht ohne festen Glauben möglich: “Ohne einen entschiedenen Glauben und einen felsenfesten Moralkodex hat niemand Anspruch darauf, das Wort ‘Fortschritt’ in den Mund zu nehmen. Niemand kann fortschrittlich sein, ohne einer Glaubenslehre anzuhangen; fast könnte ich sagen, niemand kann ohne Unfehlbarkeit fortschrittlich ein – jedenfalls nicht, ohne von der Möglichkeit der Unfehlbarkeit überzeugt zu sein. Schon der Name ‘Fortschritt’ deutet auf eine Richtung hin …” (32)
  2. Ethischer Relativismus: “Jedes Ideal hinderte die Menschen daran, bei der Beurteilung konkreter Fälle gerecht zu sein; jede moralische Verallgemeinerung tat dem einzelnen Gewalt an; die goldene Regel bestand darin, dass es keine goldene Regel gab. … Das Diktum nach dem ‘die goldene Regel lautet, dass es keine goldene Regel gibt’, lässt sich einfach dadurch beantworten, dass man es umdreht. Dass es keine goldene Regel gibt, ist wiederum eine goldene Regel oder vielmehr etwas Schlimmeres als eine goldene Regel. Es ist eine eiserne Regel, eine Fussfessel, die dem Menschen keinen Schritt zu tun erlaubt.” (55)
  3. Erfolg und Mittelmässigkeit: “Jeder noch so kluge Mensch, der damit beginnt, den Erfolg zu verherrlichen, muss in reinem Mittelmass enden. … Der Kult um den Erfolg ist der einzige unter allen Kulten, von dem sich mit Fug und Recht sagen lässt, dass seine Anhänger dazu verdammt sind, Sklaven und Feiglinge zu werden.” (104-05)
  4. Über den Zwang der Anpassung an den Trend: “Wenn die heutigen Soziologen von der Notwendigkeit reden, sich dem Trend der Zeit anzupassen, vergessen sie, dass im besten Falle der Trend der Zeit in lauter Leuten besteht, die sich an gar nichts anpassen. Im schlimmsten Falle besteht er aus vielen Millionen verängstigter Geschöpfe, die sich an einen Trend anpassen, der nicht vorhanden ist.” (116)
  5. Die Nabelschau des Stolzen: “Ein Mensch, der sich ständig mit sich selbst beschäftigt, versucht, vielseitig zu sein, bemüht sich um bühnenwirksame Vortrefflichkeit in allen Punkten, strebt eine enzyklopädische Kultiviertheit an – und in diesem falschen Universalismus verliert sich seine eigene, wirkliche Persönlichkeit. Wer sich mit sich selbst beschäftigt, gelangt schliesslich dazu, die ganze Welt sein zu wollen; wer die ganze Welt sein will, hört am Ende auf, überhaupt etwas zu sein.” (116)
  6. Die wichtigste Gemeinschaft ist die Familie: “Wer in kleiner Gemeinschaft lebt, lebt in einer viel grösseren Welt. Er weiss entschieden mehr über die drastischen Artunterschiede und unaufhebbaren Divergenzen zwischen den Menschen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. In der grossen Gemeinschaft können wir unsere Gefährten aussuchen.” (158)
  7. Das langweilige Leben von Reichen: “Das Leben der Reichen ist im Grunde deshalb so harmlos und ereignisarm, weil sie sich die Ereignisse aussuchen können. Es ist langweilig, weil sie allmächtig sind. Sie erleben keine Abenteuer, weil sie alles vollbringen können.” (169)
  8. Ursprung des Führerkults: “Einem grossen Menschen aber vertrauen die Menschen, weil sie sich selbst nicht vertrauen. Zum Kult der grossen Männer kommt es deshalb immer in Zeiten der Schwäche und Feigheit; von grossen Menschen hören wir immer erst dann, wenn alle übrigen Menschen klein sind.” (229f)

Fazit

Dieses Buch ist eine Essaysammlung mit vielen Bezügen zu zeitgenössischen Autoren des „fin de siècle“. Nur wenige sind uns noch bekannt (H. G. Wells, Bernhard Shaw). Noch wichtiger als diese Bezüge sind jedoch die zeitlos gültigen Schlussfolgerungen. Mich dünkt, als seien viele Parallelen zur heutigen Zeit vorhanden. Der Skeptizismus ist inzwischen nicht mehr Sondergut einiger Intellektueller, sondern unbewusstes Dogma der meisten Zeitgenossen.

Chesterton bleibt gerade bei seiner Ironie und seinem geschickten Umkehren von Argumenten stets fair mit den Gesprächspartnern. Von Bernard Shaw schreibt er:

“Man kann seine Prinzipien angreifen, wie ich das tue; aber ich kenne keinen Fall, wo sich an seiner Anwendung dieser Prinzipien Kritik üben liesse.” (51)

Chesterton behauptete das gleiche Recht wie seine philosophischen Kontrahenden, nämlich „dogmatisch und im Recht“ zu sein (245). Ich wünsche uns mehr von der gleichen Zuversicht. Dies führt dazu, die anhaltende Sprachlosigkeit zu überwinden:

„Die alte Einschränkung bedeutete, dass nur die Rechtgläubigkeit über Religion reden durften. Die moderne Freiheit bedeutet, dass niemand mehr darüber reden darf.“ (14)

Diese Klarheit muss von Geduld gepaart sein, denn:

„Nichts ist der Verwirklichung von Zielsetzungen abträglicher, als wenn dem unmittelbaren Gelingen solch ungeheure Bedeutung beigemessen wird. Nichts kann ein grösserer Fehlschlag sein als der Erfolg.“ (20)

Hanniel Strebel, www.hanniel.ch

3 Kommentare zu „Ketzer: Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit“

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