Der Niederländer Hermann J. Selderhuis ist nicht nur ein profilierter Kenner reformierter Theologie, sondern auch ein wortgewandter Autor. Er schrieb eine Biografie über Calvin, die unter Bezugnahme zahlreicher Quellen – insbesondere seiner Briefe – kurzweilig, allgemein verständlich und dennoch fundiert ist.
In Hermann J. Selderhuis‘ leicht zu lesender Calvin-Biografie habe ich folgenden Abschnitt gefunden, in dem er Calvins Liebe zu Büchern beschreibt. Ich hoffe, dass diese Einstellung nicht nur bei Calvinisten oder Refomierten zu finden ist.
Auszug aus dem Buch: Johannes Calvin: Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel – Eine Biografie, von Herman J. Selderhuis, S. 52-53:
Im Januar 1534 war Calvin damit beschäftigt, sich besser mit der Bibel und den Kirchenvätern vertraut zu machen. Das erforderliche Material fand er in der Bibliothek der Familie im Schloss in Angouleme. »Ich komme mit meiner Studie prima voran«, schrieb Calvin seinem Freund Francois Daniel (1534), »obwohl ich eigentlich so ziemlich gar nichts mache« (CO 10b, 37). Doch will Calvin daran auch nichts ändern, denn Gott macht doch ohnehin wieder das Gegenteil von dem, was man selbst erwartet oder plant. So hatte er schließlich auch nie damit gerechnet, »in einem ruhigen Nest« zu landen.
Dieses Nest ist das Schloss in Angouleme, das gleichzeitig Calvins sichere Festung, Calvins Wartburg war. Zwar weniger erhaben als die Burg bei Eisenach, in der Luther Unterschlupf fand, aber für Calvin ebenso bedeutend. Hier fühlte er sich sicher. In Gottes Hand. Das klingt schön und auch fromm, hat aber auch sehr viel mit dem Glücksgefühl zu tun, dass es für ihn bedeutete, hier in Ruhe seine Nase in die Bücher stecken zu können. Herrlich allein, ohne Trubel. Inmitten von Büchern glücklich zu sein, das charakterisiert diesen Mann und auch seine calvinistische Nachkommenschaft. Reformierte haben alles aus der Kirche entfernt, um uneingeschränkte Aufmerksamkeit dem Wort zu widmen, und alles aus den Schränken geräumt, um darin Bücher unterzubringen. Dass Calvin immer wieder darauf zurückkommt, dass der Glaube nicht nur ein Gefühl, sondern auch Wissen ist, hat die Lesekultur in calvinistischen Kreisen verstärkt. Wer nämlich nicht studiert, ist auch nicht bekehrt. Daher sehen wir Calvin fast immer mit einem Buch in der Hand und weiteren Büchern um ihn herum abgebildet.
So verbrachte er seine Zeit in Angouleme und Ferrara, schrieb Bücher, kaufte Bücher und erlitt hin und wieder Schmerzen, wenn er sie verkaufen musste. Seine Akademie in Genf erhielt später eine beeindruckende Bibliothek. Und solch ein reich gefüllter Schatz an Büchern wurde zum Maßstab für alle reformierten Einrichtungen später. Es wundert daher auch nicht, dass – wie Untersuchungen zeigen – reformierte Kinder an den Elementarschulen des 17. Jahrhunderts weit besser abschnitten als ihre lutherischen und katholischen Kameraden. Wenn man als reformiertes Kind in der Kirche sitzt, kann man nur zuhören oder lesen, etwas anderes gibt es nicht. Und zuhause sieht es kaum anders aus.
Das Buch ist erhältlich z.B. bei booklooker oder Amazon.
„Wenn man als reformiertes Kind in der Kirche sitzt, kann man nur zuhören oder lesen, etwas anderes gibt es nicht. Und zuhause sieht es kaum anders aus.“
Wenn dadurch der christliche Glaube nicht zum einfachen Intellektualismus verkümmert (und darin besteht in so manchen Kreisen tatsächlich eine Gefahr), dann ist gegen das viele Bücherwälzen und Rumstudieren nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Dennoch hoffe ich, dass sowohl Zuhause, in der Kirche und darüber hinaus im Leben eines „reformierten Kindes“ wesentlich mehr stattfindet als lediglich zuhören oder lesen.
Liebe Grüße,
wju
Calvin hatte immer wieder Glaubensväter, die ihn aus der Studierstube herausholten und in den Gemeindealltag stellten. Wenn Bücherlesen und aktiver Dienst in der Gemeinde Hand in Hand gehen, wird sich beides gut ergänzen. Ich beobachte leider zu oft, dass das Forschen in der Schrift und die begleitende Lektüre vernachlässigt oder gar nicht praktiziert werden. Die sollten sich von Calvin und den „Reformierten“ eine Scheibe abschneiden.