Eine komplexe und vielfältige Geschichte

Je mehr ich mich mit dem Buch Richter befasse, desto mehr staune ich über die literarische Komplexität dieses Geniestreichs hebräischer Geschichtsschreibung. Ein Hinweis von A.E. Cundall, den ich mit euch teilen möchte:

“Wir sollten darauf achten, dass wir nicht auf leichtfertige Weise unsere westlichen Beobachtungs- und Analyse-Methoden in das Studium antiker Nahöstlicher Dokumente importieren. Zum Beispiel werden im Buch Richter nicht weniger als fünf Gründe dafür angegeben, warum Israel daran scheitert, das Land Kanaan einzunehmen. Es lag an den überlegenen Waffen und Befestigungsanlagen der Kanaaniter (1,19), es lag an Israels Neigung, mit den Einwohnern des Landes Bündnisse zu schließen (2,1-5). Ein Grund lag in der Sünde Israels und der notwendigen Bestrafung dafür (2,20-21). Auch wollte Gott Israels Treue testen (2,22-23; 3,4). Schließlich sollte Israel auch Kriegstechnik erlernen. (3,1-3). Anzunehmen, dass hierin eine Inkonsistenz vorliegt, würde bedeuten, dass man den grundlegenden hebräischen Entwurf des Lebens verwirft, der ein hoch entwickeltes Konzept der Souveräntität Gottes besaß. Israel versagte bei der Eroberung aus sehr klaren Gründen und so blieben die ursprünglichen Eiwnohner im Land, doch Gott “übersteuerte” selbst das zum Besten seines Volkes. Es gibt keinen Grund an dieser Stelle zwei oder mehr (Überlieferungs-) Traditionen anzunehmen. Alle fünf Gründe lagen dem Hebräischen Verständnis zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten vor Augen. In ähnlicher Weise könnten wir vor der Weise zurückschrecken, in der Israel in die Hand bestimmter Unterdrücker ausgeliefert wird, um anschließend durch einen bestimmten Richter befreit und regiert zu werden, während der Kontext es sehr deutlich macht, dass nur eine kleine Zahl der Stämme und ein relativ kleiner Teil des Landes betroffen war. Eine Erklärung dafür könnte in dem hebräischen Verständnis der ethnischen Solidarität liegen. ( Aus: Cundall, A. E., & Morris, L. (1968). Judges and Ruth: an introduction and commentary (Bd. 7, S. 25–26). Downers Grove, IL: InterVarsity Press.)

Hier noch der Originaltext:

It should be observed that we must not lightly import our western methods of investigation and analysis into our study of Ancient Near-Eastern documents. For example, no fewer than five reasons are advanced in the book of Judges for the failure of the Israelites to occupy the land of Canaan. It was because of the superior arms and fortifications of the Canaanites (1:19); because of Israel’s disposition to make alliances with the inhabitants of the land (2:1–5); because Israel had sinned and must be punished (2:20, 21); because God was proving Israel’s faithfulness (2:22, 23; 3:4); and finally, it was so that Israel might be instructed in the arts of war (3:1–3). To suggest that there is inconsistency here would do despite to the basic Hebrew approach to life, with its highly developed conception of the sovereignty of God. Israel had failed to occupy the land for very good reasons and so the former inhabitants remained in the land, but God overruled even this for his people’s good. There is no need to allege two or more traditions; all five reasons could have suggested themselves to the same Hebrew mind at various times and in differing contexts. Or again, we could cavil at the way in which Israel is said to have been given into the hand of a certain oppressor and subsequently delivered and governed by a particular judge, whilst the context makes it clear that only a minority of the tribes and a relatively small area of the land were affected. An explanation of this may lie in the Hebrew conception of racial solidarity. (Cundall, A. E., & Morris, L. (1968). Judges and Ruth: an introduction and commentary (Bd. 7, S. 25–26). Downers Grove, IL: InterVarsity Press.).

 

2 Kommentare zu „Eine komplexe und vielfältige Geschichte“

  1. “Westlichen Beobachtungs- und Analyse-Methoden”.
    Soll das ein Euphemismus für “nicht-Historisch nach unserem (modernen) Empfinden” sein?
    Betreibe ich jetzt historische Kritik ^^?
    Wie hilft das nun, tatsächliche oder vermeintliche, “Inkonsistenzen” aufzulösen.

  2. Ne ich denke nicht. Der Autor gibt ja zwei Beispiele, die lokalen Ereignisse, die als ganz Israel betreffend beschrieben werden und Angabe unterschiedlicher Gründe zu gleichen Ereignissen. Ich denke , dass wir Westler extrem verkürzt mit solchen Textfällen umgehen, wenn wir solche „Symptome“ mit unterschiedlichen Überlieferungstraditonen wegerklären, die ein liebloses Redaktionsteam zusammengefügt hat. Selbst in diesem Fall bliebe ja die Frage, warum der Redaktor so wenig Wert auf eine Harmonisierung legt…

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