Heute wieder eine Gastrezension:
Ein Bruder empfahl mir „Der Tempel aller Zeiten“, als er mein Interesse am Thema bemerkte. Seit ich „Der Messias im Tempel“ von Roger Liebi gelesen hatte, lese ich die Bibel mit anderen Augen und erweitertem Horizont. Hinzu kamen eigene ‒ freilich bescheidenere ‒ Studien hinzu, die meinen Blick weiter schärften. Ein grundlegendes Interesse an der Materie ist also von Vorteil, möchte man das Buch in die Hand nehmen.
Den Rahmen des Buches bilden die ersten zwei und die letzten zwei Kapitel der Bibel: Das erste und das letzte Paradies. Von dem sog. adamitischen Auftrag in 1. Mose 1, 28 ausgehend, nämlich die Erde zu füllen und über sie zu herrschen, beschreibt der Autor den Heilsplan Gottes unter dem neuen Aspekt des Tempel-Themas, was im Buch als „Theologie des Tempels“ bezeichnet wird. Der Wille Gottes war es, sein Recht vom Paradies aus über die gesamte Erde zu verbreiten, und Adam war mit diesem Auftrag betraut. Er und Eva sollten Nachkommen zeugen, die sich ausbreiten sollten, und vor allem: die das Gebot Gottes bewahren und an ihre Nachkommen weitergeben sollten. Da aber Adam und Eva das Gebot brachen, kamen sie diesem Auftrag nicht nach (sondern nur dem, Nachkommen zu zeugen). Später vertraute Gott dem Volk Israel sein Gebot, das es bewahren und ihren Nachkommen weitergeben sollte. Als wesentlichen Bestandteil enthielt das Gesetz die Anleitung zum Bau der Stiftshütte und für den Priesterdienst. Vom Tempel aus, der eine Erweiterung der Stiftshütte war, sollte das Recht Gottes sich in seinem Volk und darüber hinaus ausbreiten. Sehr interessant fand ich die gut ausgearbeitete Verbindung zwischen dem ersten Paradies und dem Tempel, bzw. der Stiftshütte. Aber auch Israel kam dem anvertrauten Auftrag nicht nach. Bereits aus dem AT geht aus vielen Stellen, die der Autor auch anführt (in dem Buch wird auf mehrere Tausend Bibelstellen Bezug genommen), hervor, dass der Tempel in Jerusalem nur ein Abbild des eigentlichen Tempels Gottes war. Dieser offenbarte sich später in Christus und besteht seit Pfingsten geistlich als seine Gemeinde fort, die nun damit beauftragt ist das Evangelium vom Reich Gottes auf der ganzen Welt zu verbreiten. Der Höhepunkt ist die Offenbarung dieses Tempels, der die neue Schöpfung ganz erfüllen wird.
Der Facettenreichtum dieser Theologie macht das Buch zu einer Herausforderung. Außerdem ist es durchweg Bibelauslegung. Wer mit exegetischen Werken und Kommentaren vertraut ist, kann sich vorstellen, was es bedeutet, 450 Seiten durchgehend Bibelexegese zu lesen. Das ist abschreckend, ich gebe zu. Wer es aber auf sich nimmt, wird dadurch belohnt, dass er nach der Lektüre beim Lesen der Bibel auf jeden Fall mehr sehen wird als davor. Es ist Arbeit, die aber belohnt wird. Nur ein Beispiel:
Während meiner eigenen Beschäftigung mit verschiedenen Themen stieß ich immer wieder audie Stephanus-Rede in Apostelgeschichte 7. Dadurch empfand ich sie im Laufe der Zeit immer bedeutender. Aber erst nach der Lektüre dieses Buches, erkannte ich, dass das Tempel-Thema sich von Anfang bis zum Ende seiner Rede durchzieht, was ich zuvor schlicht und ergreifend nie gesehen hatte!
Der Autor behandelt außerdem einige altorientalische, ägyptische, früh- und spätjüdische Texte (Pseudepigraphien etc.), auf die er zwar nicht baut, die aber seine Argumentation auf eine sehr schöne Weise untermauern. Faszinierend auch die Belege aus den Schriften der Qumrangemeinschaft. Auch diese waren mir im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden. Auch hier fördert der Autor Schätze zutage, die mir sonst wohl verborgen geblieben wären.
Was mir während der Lektüre zusätzlich angenehm auffiel war, dass der Autor klar von der Inspiration des Wortes Gottes überzeugt ist. Das ist für einen hochdekorierten Professor der Theologie wie ihn nicht selbstverständlich!
Einiges, was mir in dem Buch negativ auffiel, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Zum einen wären da die teilweise sehr dünnen Verbindungen zwischen den Gedanken, die an der Gesamtkonsistenz des Werkes rütteln. Besonders in der zweiten Hälfte des Buches befand ich mich oft in der Schwebe und wusste nicht, was der Autor konkret zum Ausdruck bringen möchte. Hinzu kommt, dass er auf zu viele Ausleger eingeht, deren Gedanken klar zu verwerfen sind (auch wenn er selbst ihre Meinung nicht teilt). Auch wenn das zur wissenschaftlichen Arbeit eines Theologen gehört, werden wohl die meisten Leser nichts damit anzufangen wissen. Dann ist das Werk für meinen Geschmack zu überladen mit zu vielen Gedanken, die in zu viele verschiedene Richtungen weisen. Auch das, eine Eigenheit theologischer Werke. Durch die zu vielen Abzweigungen wird der Hauptstamm der Argumentation stark belastet. Auch die sehr umständlichen Formulierungen erschweren das Lesen. Das kann an der Übersetzung liegen, ist aber eher der theologischen Art des Werks zu verantworten. Und zuletzt: Das Thema Tod, das einen wesentlichen Bestandteil einer ordentlichen Theologie des Tempels ausmachen sollte, ist in dem Buch völlig ausgeblendet.
Das Lesen, das eher ein Sich-Erarbeiten war, hat sich für mich persönlich aber gelohnt!
Johann Dirksen