Buchrezension: Wie können wir denn leben?

5139_1Francis Schaeffer. Wie können wir denn leben? Hänssler: Holzgerlingen, 2000. 302 Seiten.

Der Betanien-Verlag hat das Buch neu übersetzt und soeben veröffentlicht (siehe hier).

Francis Schaeffer (1912-1984), Evangelist der Intellektuellen und einer der bedeutendsten Evangelikalen des 20. Jahrhunderts, hat seine Sicht auf die westliche Geistesgeschichte in diesem Buch niedergelegt. Ich empfehle, sich ergänzend die gleichnamige Dokumentarfilm-Serie zu Gemüte zu führen.  Beim Lesen muss bedacht werden: Schaeffer sah sich in erster Linie nicht als Philosoph, sondern als Evangelist. Seine (pointierte) Sichtweise hat er über Jahrzehnte in unzähligen Gesprächen mit Intellektuellen aus aller Welt entwickelt und geschärft. Sie ist schon Mitte der 80er-Jahre z. B. von Ronald W. Ruegsegger kritisiert worden.  Viel wichtiger scheint mir insgesamt jedoch die Auseinandersetzung mit einer christlichen Weltsicht an sich.

Schaeffer geht etappenweise durch die Geschichte der Christenheit. Zu den einzelnen Phasen habe ich kurze Zusammenfassungen angefertigt.

Kulturgeschichte Roms und des Mittelalters

Christen in der römischen Gesellschaft: Es spricht für die christliche Weltanschauung, dass die damaligen Christen der religiösen Vermischung (Synkretismus) und den Auswirkungen der Schwächen der römischen Kultur widerstehen konnten. Diese Stärke hatte ihren Ursprung im unendlich-persönlichen Gott, der im Alten und Neuen Testament gesprochen hatte. Deshalb verfügten die Christen nicht nur über Wissen bezüglich Universum und Menschheit, das sie von selbst nicht hätten herausfinden können. Sie besassen überdies absolute, universell gültige Werte, nach denen sie ihr Leben ausrichteten und mit denen sie die Gesellschaft und den politischen Staat, in dem sie lebten, beurteilen konnten. Umgekehrt kann eine Kultur oder ein einzelner Mensch mit einer  schwachen weltanschaulichen Basis nur so lange bestehen, wie der Druck nicht zu gross ist.

Die Rolle der Kirche im Mittelalter – eine gemischte Bilanz: Das Christentum wurde bald verfälscht, indem ihm humanistische Elemente beigefügt wurden. In zunehmenden Mass wurde der Autorität der Kirche gegenüber den Lehren der Bibel Vorrang gegeben. Der Glaube einer Erlösung durch die Grundlage des Werkes Christi wurde zugunsten eines Erlösungskonzepts preisgegeben, in dem der Mensch sich den Verdienst Christi erabeitete. Trotzdem ist die Rolle der Kirche in verschiedenen Bereichen positiv zu bewerten: Sie bemühte sich darum, gerechte Preise durchsetzen und begrenzte das Zinsniveau. Sie lobte die Tugend ehrlicher, gut ausgeführter Arbeit. Schliesslich versorgte sie die Gesellschaft mit einem beeindruckenden Netz von Wohlfahrtseinrichtungen. Obwohl die Kirche oft modellhafte Beispiele effektiven wirtschaftlichen und politischen Managements lieferte, war sie in viele mittelalterliche Einrichtungen verwickelt, so dass es ihr schwerfiel, das Salz der Gesellschaft zu sein. Ironischerweise war der Papst zwischen 1100 und 1300 der effektivste Monarch des Mittelalters.

Renaissance und Reformation als Reaktion auf die Entfernung von der christlichen Lehre

Das Wertsystem der Reniassance wurzelte in dem Glauben, dass der Mensch sein eigener Massstab und damit völlig autonom und unabhängig sei. Sie setzte den Menschen in den Mittelpunkt des Raumes. Dieser musste mathematischen Prinzipien gehorchen, die dem Denken des Menschen entsprungen waren. Der Mensch erwartete vertrauensvoll seine eigene zukünftige Stärke. Die Folge dieses Denkansatzes: Der Mensch, der von sich ausgeht, wird nie zum Allgemeinen vorstossen, sondern bei den Einzeldingen, denen er keinen Sinn geben kann, hängen bleiben. Die positive Auswirkung: Der Natur wurde wieder ein gebührender Platz eingeräumt; der Mensch wurde als wirklicher Mensch in seiner wirklichen, von Gott geschaffenen Welt angesehen.

Die Reformation betonte im Gegenzug, dass die Bibel einzige Quelle endgültiger Autorität darstellt und dass Erlösung nur durch Christus und sein Werk möglich wird. Die Reformatoren lernten von dem neuen Wissen wie auch von der Geisteshaltung der Reniassance. Sie waren sich aber auch bewusst, dass der Mensch die Antworten braucht, die Gott uns in der Bibel gegeben hat, um wirklich ausreichende Antworten zu haben. Durch ihre Rückkehr zur biblischen Lehre kannten sie kein Universalienproblem. Zur gleichen Zeit Wissenschaft und Kunst in die Freiheit entlassen – auf der Grundlage der Offenbarung der Schrift.

Auswirkungen der Reformation auf Kunst und Politik – im Gegensatz zur Utopie des Humanismus

Die Reformation bedeutete für den Bereich der Rechtsprechung, dass die Bibel zur Grundlage des Gesetzes wurde. „Das Christentum ist die unsterbliche Saat der Freiheit in der Welt.“ (Alexandre Vinet, 1797- 1847) Der Mensch musste sich deshalb weniger vor willkürlicher Rache fürchten. Der kleine Mann konnte zu jeder Zeit aufstehen und auf der Grundlage der biblischen Lehre erklären, dass die Mehrheit im Unrecht war. Mit der starken Betonung des Sündenfalls begriffen die Reformatoren auch, dass Kontrollen notwendig sind, inbesondere für Leute an der Macht.

Trotzdem gab es natürlich viele Bereiche, die sich nicht nach der Bibel ausrichteten. Schaeffer nennt die Rassenfrage als Beispiel. Es herrschte die Auffassung, dass der Schwarze keine Person sei und wie ein Gegenstand behandelt werden könne. Zudem zeigte sich auch ein Mangel an barmherziger Verwendung aufgehäuften Reichtums. Dieser Utilitarismus brachte Elend und Ausbeutung mit sich.

Im Gegenzug war der Traum der Aufklärung mit seinen Idealen von Vernunft, Natur, Glück, Fortschritt und Freiheit utopisch zu nennen. Mensch und Gesellschaft hielt man für “vervollkommnungsfähig”. Die Leitreligion der Aufklärung war der Deismus: Wenn es einen Gott gab, dann schwieg er. Die französische Revolution setzte die Souveränität des Volkes an oberste Stelle. Wie die spätere russische Revolution hatten die Revolutionäre auf ihrer humanistischen Grundlage nur zwei Möglichkeiten: Anarchie oder Unterdrückung. Für den Humanisten war die letzte Realität neutral und schwieg zu Unrecht und Grausamkeit.

Die Entstehung der Wissenschaft aus dem christlichen Weltbild heraus; der Wendepunkt in Philosphie und Wissenschaft

Der Beginn der modernen Wissenschaft steht nicht in Konflikt mit der biblischen Lehre. Im Gegenteil, die moderne Naturwissenschaft wurde aus dem christlichen Weltbild heraus geboren. Dieser Denkrahmen war der Wissenschaft sehr zuträglich. Er setzte voraus, dass jedes einzelne Ereignis zu den vorausgegangenen in Beziehung gesetzt und Ausdruck allgemeiner Prinzipien werden kann. Die menschliche Kreativität galt als Teil des einzigartigen Menschseins. So entstand die Zuversicht, durch Beobachtung und Experimente etwas über die Welt herauszufinden. Der Wissenschaftler ging nämlich von einer objektiven Realität aus. Gott hatte ein Universum geschaffen, in dem das Kausalitätsprinzip galt. Aus der Wirkung liess sich etwas über die Ursache herausfinden. Der Mensch, die Naturwissenschaft eingeschlossen, verstand sich aber nicht als autnonom. Er nahm die Lehre der Bibel über Geschichte und Einzelereignisse ernst.

Diesem Denkrahmen stand ein anderer gegenüber, was eine grosse Spannung erzeugte, Wenn es kein Allgemeines gab, dann machten die Einzeldinge keinen Sinn. Wie aber wurde allem Seienden Einheit und Sinn verliehen? Nichtchristliche Philosophen setzten beim Menschen an und glaubten, dass er aus sich selbst genug über Einzeldinge in Erfahrung bringen kann, um darüber zu einem Ganzen zu gelangen. Sie glaubten an die Macht der Vernunft. Dadurch verschob sich allmählich der Glaube an die Gleichartigkeit natürlicher Kausalitäten in einem offenen System hin zu einem Glauben an die Gleichartigkeit natürlicher Kausalitäten in einem geschlossenen System. Doch wurde nicht nur Gott begraben, es starb auch der Mensch. Der Mensch wurde zur Null degradiert und das Leben zwecklos. Der anfängliche Optimismus des Humanismus kippte deshalb in Pessimismus. Rousseau markierte den Wendepunkt, indem er postulierte, dass alles zur (Welt-)Maschine gehört, auch der Mensch. Er gab den Fortschrittsglauben auf und vertrat das Ideal eines unkonventionellen Lebens. In diesem Leben war der Mensch Held, der alle Massstäbe, Werte und Einschränkungen der Gesellschaft bekämpfte. Das, was natürlich ist, ist auch moralisch gut. Grausamkeit wird der Nicht-Grausamkeit gleichgesetzt.

Der Niederschlag von Pessimismus und Fragmentation in der Kunst

Moderner Pessimismus und Fragmentation haben sich kulturell in der bildenden Kunst und der Musik niedergeschlagen. Der Betrachter steht vor einem Bild und kann einerseits erkennen, was der Künstler dargestellt hat. Dann aber fragt er sich: Hat das, was ich sehe, überhaupt einen Sinn? Realität wird zu einem Traum. Die Maler begannen, die Vorstellung einer zersplitterten Wirklichkeit auf die Leinwand zu bannen. Das Ergebnis: Eine totale, alles umfassende Absurdität. Ein Kritiker meinte über Picassos Werk: Natürlich war kein einziges dieser Gemälde eigentlich ein Portrait, sondern eher seine Darstellung einer zugrunde gerichteten Welt. Schaeffer erwähnt Bernstein, der über Mahlers 9. Symphonie sagte: Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert des Todes, und Mahler ist dessen musikalischer Prophet. Schaeffer erwähnt weiter die Musik Schönbergs.  Darin kommen die unaufhörlichen Variationen nie zu einer Auflösung; dies im Gegensatz etwa zu Bach, der trotz grosser Vielfalt immer wieder zur Auflösung fand. Je mehr diese Musik zur intellektuellen Aussage wurde, desto mehr geriet sie anstatt zum Kunstwerk zum Anti-Kunstwerk. Die Kunst brachte die Weltanschauung der Künstler zum Ausdruck und wurde zu einem Träger, welcher deren Weltanschauung unter die Menschen brachte. Von allen Seiten werden wir deshalb mit einer fragmentierten Vorstellung von Universum und Leben konfrontiert.

Die Gefahr der Manipulation der Gesellschaft

Die Mehrzahl der Menschen übernahm kümmerliche Restwerte: Persönlichen Frieden und Wohlstand. Diese Stelle gehört meines Erachtens zu den stärksten des ganzen Buches. Persönlicher Friede bedeutet gemäss Schaeffer, in Ruhe gelassen und nicht mit den Problemen der anderen Menschen belästigt zu werden. Als Ideal wird ein Leben mit einem Minimu an Konfliktmöglichkeiten angesteuert. Wohlstand meint überwältigenden und zunehmenden Reichtum; ein Leben, das aus Gegenständen, Gegenständen und nochmals Gegenständen besteht. Fasst das nicht die Lebensweise vieler Zeitgenossen (auch Christen) zusammen?

Schaeffer bringt ein zweites, sehr aktuelles Argument auf. Es stellt sich die Frage, ob die Menschen – weil daran gewöhnt – willkürlich gesetzte Absoluta schlucken würden, falls dies soziologisch vorteilhaft erschiene. Wenn keine Absoluta vorhanden sind, nach denen die Gesellschaft zu beurteilen sind, dann ist die Gesellschaft absolut. Ein Einzelner oder eine Elite muss das Vakuum füllen, das sich durch den Verlust des christlichen Konsens geöffnet hatte. Durch die willkürlichen Absoluta entwickelte sich die Gesellschaft zu einem Feld der Technokratie. Techniker der Verwaltung und der Wirtschaft geben den Ton. Wer aber prüft die Prüfer? Die Mehrheit, so prognostizierte Schaeffer, würde den Verlust von Freiheiten hinnehmen, ohne ihre Stimme zu erheben; dies wenigstens solange, als ihr Lebensstil – persönlicher Friede und Wohlstand – nicht bedroht würde.

Die Ansicht, dass der Mensch letztlich eine chemische Maschine ist, führte zur Legitimation, ihn zu manipulieren und umfassend zu kontrollieren. Der Mensch hat einen genetischen Code. Er hat eine Umwelt, die das Produkt des genetischen Codes beeinflusst. Das ist die letzte Einsicht über den Menschen. Ohne die absolute Grenze, die das Christentum der charakteristischen Eigenart des Menschen setzt, führen selbst Dinge, die an sich gut sein mögen, dazu, dass das Menschsein in zunehmendem Mass verlorengeht.

Fazit

Das Buch enthält eine Menge an spannenden Impulsen. Zum Beispiel: Wie schafften es die Christen im römischen Reich dem Synkretismus zu widerstehen? Wie veränderte die Reformation die Gesellschaft? Zu diskutieren wären die Aussagen von Schaeffer über Mittelalter und Renaissance. Am brisantesten jedoch finde ich den letzten Teil. Wie haben die beiden Leitwerte Wohlstand und persönlicher Friede in den letzten Jahrzehnten unsere Gesellschaft beeinflusst? Wie steht es heute um die Manipulation und Kontrolle des Menschen? Wo haben sich Schaeffers Befürchtungen bewahrheitet?

Hanniel Strebel, www.hanniel.ch

1 Kommentar zu „Buchrezension: Wie können wir denn leben?“

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