Buchrezension: Preisgabe der Vernunft

Fran­cis Schaef­fer. Preis­gabe der Ver­nunft: Kurze Ana­lyse der Ursprünge und Ten­den­zen des moder­nen Den­kens.  Brock­haus Ver­lag: Genf/Wuppertal, 1985. 96 Seiten. Antiquarisch.

Das Büch­lein bil­det Teil I der berühm­ten „Tri­lo­gie“ Schaef­fer (Ori­gi­nal: Escape From Rea­son, 1968). Zusam­men mit „Gott ist keine Illu­sion“ sowie „und er schweigt nicht“ beschäf­tigt sich Schaef­fer grund­le­gend mit dem intel­lek­tu­el­len und kul­tu­rel­len Klima der zwei­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts. In Preis­gabe der Ver­nunftent­wi­ckelt er ins­be­son­dere die Sche­mata von „Natur und Gnade“ und der „Linie der Ver­zweif­lung“.

Der Zwie­spalt des moder­nen Men­schen: Etap­pen der geis­tes­ge­schicht­li­chen Entwicklung

Im Schnell­durch­gang durch­schrei­tet Schaef­fer die abend­län­di­sche Geistesgeschichte.

Tho­mas v. Aquin (1225 – 1274) teilte die Welt in Gnade (das Höhere) und Natur (das Nie­dere) ein. Letzt­lich ver­dan­ken wir die­sem der Renais­sance zu Grunde lie­gen­den Welt­bild ein ange­mes­se­nes Ver­ständ­nis der Natur. Ande­rer­seits lehrte von Aquin, dass der mensch­li­che Wille vom Sün­den­fall betrof­fen war, der Intel­lekt jedoch nicht. Dar­aus ent­wi­ckelte sich die natür­li­che Theo­lo­gie, die ohne Bezug­nahme auf die Hei­lige Schrift aus­kam. (Die inhalt­li­che Halt­bar­keit die­ser Gedan­ken­gänge sind sehr umstrit­ten. Ron Kubsch geht im Schaeffer-Sammelband „Wahr­heit und Liebe“ näher auf die Kri­tik ein.)

Leo­nardo da Vinci (1452 – 1519) unter­schied zwi­schen Gnade (Allgemeinbegriffe/Universalien) und Natur (Einzeldinge/Besonderes). Auto­no­mes, ratio­na­les Den­ken führte zu einer star­ken Beto­nung der Mathe­ma­tik. Die Pro­ble­ma­tik in einer Frage zusam­men­ge­fasst: Wo ist die Ein­heit, wenn man der Ver­schie­den­heitfreien Raum gibt?

Die Renais­sance trennt die ideale Liebe (lyri­sche Dich­ter, geis­tige Liebe) von der sinn­li­chen Liebe (Roman­schrift­stel­ler, komi­sche Dich­ter). Der Mensch wird frei um den Preis der Unmoral.

Im 18. Jahr­hun­dert wird durch den Ein­fluss wich­ti­ger Den­ker wie Imma­nuel Kant (1724 – 1804) und Jean-Jacques Rous­seau (1712 – 1778) der Gedanke an Gnade völ­lig fal­len­ge­las­sen. Sie wird durch Frei­heit ersetzt. Nach­dem der Lebens­be­reich der Natur völ­lig auto­nom gewor­den war, wurde das Vakuum durch der Deter­mi­nis­mus gefüllt. Der Mensch wurde in diese (Welt-)Maschinerie ein­be­zo­gen.  Die Frei­heit des Indi­vi­du­ums hin­ge­gen (der obere Bereich), das kei­ner Erlö­sung mehr bedurfte, war abso­lut. Das erzeugte eine mäch­tige Spannung.

Das Gesetz der Naturk­au­sa­li­tät in einem geschlos­se­nen Sys­tem setzt sich in der Wis­sen­schaft durch. Ledig­lich Ein­zel­dinge kön­nen erkannt wer­den.  Des­halb lan­dete man bei der Mescha­nik. Dabei wird die Frei­heit völ­lig preis­ge­ge­ben. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird nicht mehr gestellt. Auf dem Gebiet der Moral bedeu­tete dies, dass die Vor­stel­lung von Gut und Böse letzt­lich nur noch ein Werk­zeug der Mani­pu­la­tion durch die mensch­li­che Gesell­schaft in einer mecha­ni­sier­ten Welt dar­stellte (Mar­quis de Sade, 1740 – 1814).

Die seit der Antike gül­tige Erkennt­nis­theo­rie setzte bei der Ratio an. Der Mensch ging völ­lig und aus­schliess­lich von sich selbst aus. Auf seine Ver­nunft war Ver­lass, des­halb war ein ein­heit­li­ches Erkennt­nis­feld gege­ben. Durch G. F. Hegel (1770 – 1831) änder­ten sich sowohl die Erkennt­nis­theo­rie wie auch die Metho­lo­gie. Die Ratio­na­li­tät an sich wurde preis­ge­ge­ben. Wahr­heit ist nicht mehr unbe­dingte Wahr­heit. Kier­ke­gaard (1813 – 1855) ver­än­derte die bei­den Sphä­ren von Frei­heit und Natur in Glaube und Ver­nunft. Die­ses neue duale Den­ken – Schaef­fer nennt es die Linie der Ver­zweif­lung – hat sich über die Phi­lo­so­phie in der Male­rei, Musik und schliess­lich in der Theo­lo­gie niedergeschlagen.

Was bleibt übrig? Der Mensch ent­behrt dem Sinn sei­nes Daseins. Das führt zu einer pes­si­mis­ti­schen Grund­hal­tung. Auf­grund aller Ver­stan­des­er­kennt­nis ist der Mensch bedeu­tungs­los. Der zur Ent­ste­hungs­zeit die­ses Buch sehr aktu­elle Exis­ten­zia­lis­mus hatte seine welt­li­chen Ver­tre­ter (Sartre – Selbst­ver­wirk­li­chung, Jas­pers – Grenz­si­tua­tion, Hei­deg­ger – Angst) sowie seine reli­giö­sen Expo­nen­ten (Barth – Ver­stand ist kein Anhalts­punkt zur Veri­fi­ka­tion, reli­giöse Wahr­heit ist von der his­to­ri­schen abgetrennt).

In der zeit­ge­nös­si­schen Theo­lo­gie zeigte sich die­ser Sprung: Til­lich sprach von Gott jen­seits von Gott. Klar defi­nierte Begriffe aus Natur­wis­sen­schaft und Geschichte erga­ben sich im ratio­na­len Bereich. Im nicht-rationalen Bereich hin­ge­gen konnte es sich nur um Worte han­deln, wel­che Asso­zia­tio­nen aus­lö­sen. Jesuswar dem­nach die Illu­sion einer ech­ten Mit­tei­lung, wel­che eine kräf­tige Reak­tion her­vor­rief. Gott erschien als das phi­lo­so­phi­sche Andere, als das unend­li­che, per­sön­li­che Alles. Reli­giöse Fra­gen waren defi­ni­tiv in den Bereich des Nicht­dis­ku­tier­ba­ren ver­scho­ben worden.

Schaef­fer ord­nete das aktu­el­les Sym­tom des Dro­gen­kon­sums nicht als Wirk­lich­keits­flucht oder Ner­ven­kit­zel ein, son­dern sah es als Folge der Hoff­nungs­lo­sig­keit des Men­schen. Der Mensch suchte eine Ant­wort in erst­ran­gi­gen Erleb­nis­sen, im „High“. Der ratio­nale Mensch endete so als Mys­ti­ker. Neu an die­ser Art von Mys­tik war die Auf­fas­sung, dass es belang­los ein, ein Gegen­über zu haben. Es komme allein auf den Glau­ben. Die neuen Pro­phe­ten des Seins (d. h. des obe­ren Bereichs) waren die Dich­ter, Maler und Musi­ker. Sie waren die­je­ni­gen, wel­che in die gros­sen Fra­gen noch zu stel­len ver­stan­den. Bezeich­nend war aller­dings ihr feh­len­des mora­li­sches Urteil. Ihre Aus­drucks­for­men ver­stan­den sie als blosse Wahrnehmungen.

Die gesamt­heit­li­che Sicht der Bibel – Got­tes Offen­ba­rung in Raum und Zeit

Wie lau­tete Schaef­fers Ant­wort auf die Linie der Verzweiflung?

Er setzte bei der Ant­wort der Refor­ma­tion auf das Pro­blem der Ein­heit von Natur und Gnade an. Die Refor­ma­to­ren ver­nein­ten die Auto­no­mie im Bereich letz­ter Auto­ri­tät. Die Bibel war Quelle end­gül­ti­ger und umfas­sen­der Erkennt­nis. Sie bot kein erschöp­fen­des Wis­sen, jedoch wahre und ganz­heit­li­che Erkenntnis.

Ein zen­tra­ler Teil die­ser Erkennt­nis war die Anthro­po­lo­gie. Schaef­fer stellte her­aus, dass wir unsere Mit­men­schen nicht als Men­schen behan­deln könn­ten, ehe wir ihren Ursprung wirk­lich kenn­ten. Der Mensch ist nach Got­tes Bild geschaf­fen und darum etwas Wun­der­ba­res. Adam war ein unpro­gram­mier­ter, ver­ant­wor­tungs­be­wuss­ter Mensch in einer gestalt­ba­ren Geschichte. (Im Gegen­satz dazu neigt der moderne Mensch zum Gedan­ken, er sei ein Nichts.)

Zwei­tens gibt die Bibel zuver­läs­sige Infor­ma­tion über den Schöp­fer des Uni­ver­sums. Sie spricht von ihm als dem per­sön­li­chen und unend­li­chen Gott. Im Hin­blick auf Got­tes Unend­lich­keit ist der Mensch so getrennt wie eine Maschine. Seine Per­sön­lich­keit ist jedoch dar­auf ange­legt, um mit die­sem Gott in per­sön­li­cher Ver­bin­dung zu ste­hen. Der Mensch ist zwar ver­lo­ren, jedoch ent­schei­dungs­fä­hig. Er ist in der Lage, Geschichte zu beein­flus­sen, ein­schliess­li­che sei­ner eige­nen Ewig­keit und der­je­ni­gen sei­ner Mitmenschen.

Die dritte Ein­sicht: Die­ser ver­nünf­tige Gott hat ein ver­nünf­ti­ges Uni­ver­sum aus­ser­halb von sich selbst geschaf­fen. Das bie­tet die Gewiss­heit objek­ti­ver Exis­tenz, von Ursa­che und Wir­kung. Weil das Welt­all einen wahr­haft per­sön­li­chen Anfang hat, ste­hen Liebe und Kom­mu­ni­ka­tion nicht im Gegen­satz zu dem, was im Wesen bereits vor­han­den ist.

Wie ist eine Umkehr des moder­nen Men­schen mög­lich? Der Mensch muss, wenn er zurück­fin­den will, zwar sei­nen Ratio­na­lis­mus auf­ge­ben. Doch fin­det er dann, auf der Basis des logisch Dis­ku­tier­ba­ren, die Mög­lich­keit, seine Ratio­na­li­tät wie­der zu gewin­nen. Chris­tus ist in bei­den Lebens­be­rei­chen – Natur und Gnade – Herr, darum Herr des gan­zen intel­lek­tu­el­len Lebens. Das Sys­tem der Bibel erläu­tert, warum der ein­zelne tun darf, was alle tun müs­sen, näm­lich bei sich selbst begin­nen. Gott hat dem gefal­le­nen Men­schen inhalts­rei­ches Wis­sen gege­ben, das er so drin­gend benötigt.

Fazit

Auch wenn man über den Bei­trag ein­zel­ner Den­ker — ins­be­son­dere Tho­mas von Aquin und Sören Kier­ke­gaard — geteil­ter Mei­nung sein kann, bil­den diese Gedan­ken wert­volle Anhalts­punkte. Die Tren­nung zwi­schen dem „obe­ren“ und dem „unte­ren“ Bereich kann auf einem Bier­de­ckel skiz­ziert wer­den. Die christ­li­che Welt­an­schau­ung mit den drei Fix­punk­ten persönlich-unendlicher Gott, Mensch und Uni­ver­sum stellt für mich ein ergie­bi­ges Meta­mo­dell dar.

Han­niel Stre­bel, www.hanniel.ch

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