Buchrezension: Gott ist keine Illusion

Francis Schaeffer. Gott ist keine Illusion. Haus der Bibel/R. Brockhaus Verlag: Zürich/Genf/Basel/Wuppertal, 1974. Antiquarisch.

Dieses Buch (engl. Originaltitel „The God Who Is There“, 1968) enthält die wesentlichen Erläuterungen der christlichen Weltsicht, wie sie von Francis Schaeffer entwickelt worden ist. Mit Entwicklung meine ich „in zahllosen Gesprächen erarbeitet und verfeinert“. Manche dieser Diskussionen spielten sich in Schaeffers Haus ab, wo Menschen aus aller Welt abstiegen und über die Sinnfrage nachdachten.

Erster Teil: Das intellektuelle Klima in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Schaeffer beginnt mit der Feststellung: Die Kluft ist befestigt. Die einheitlichen, vom Christentum geprägten Denkvoraussetzungen waren verschwunden. Nichtchristen verfielen eine Zeit lang noch der Illusion optimistischer Antworten, ohne nach ausreichenden Grundlagen zu fragen. Sie handelten einfach noch nach den christlichen Massstäben ohne jedoch zu wissen, warum (9). Zur Grundausrüstung gehörte, dass man mit absoluten Massstäben rechnen konnte. Dieses Absolute schloss die Antithese mit ein. (Es scheint mir, dass es bei Kindern aus christlichen Elternhäusern eine solche Phase gibt. Doch diese dauert in der Regel nur kurz.) Wenn wir die Veränderungen in den Denkvoraussetzungen – Schaeffer geht davon aus, dass der moderne Mensch unterhalb die Linie der Verzweiflung gerat ist – nicht nachvollziehen, fehlt uns der Anknüpfungspunkt. Wir führen nur noch Selbstgespräche (14).

Der nicht mit Schaeffer vertraute Leser wird nun fragen: Was ist denn die Linie der Verzweiflung? Es geht um die grundsätzliche Trennung zwischen dem Nicht-Rationalen bzw. Nicht-Logischen (Glaube) und dem Rational-Logischen (Einzelheiten ohne Sinn und Ziel). Der Wechsel zwischen beiden Ebenen ist nur durch einen gewaltigen irrationalen Sprung möglich.

Schaeffer entfaltet nun die geistesgeschichtliche Entwicklung. Die erste Stufe vollzog sich in der Philosophie. Die Existenzialisten setzten ihre Hoffnung auf ein nicht-rationales, nicht-logisches und nicht-mitteilbares Erlebnis (21), während die Empiristen sorgfältige Definition der Einzeldinge entwickelten, dabei aber Sinn und Ziel ausgeklammert liessen (24). Die zweite Stufe erkannte Schaeffer in der Kunst. Dort setzte eine verzweifelte Suche nach dem Allgemeinen ein. Unterhalb der Linie der Verzweiflung ist nur ein abstraktes Gleichgewicht ohne Raum für den Menschen zu erhalten (34). Das Traurige: Christen haben anstatt tiefem Mitgefühl für die Todesnot des modernen Menschen nur ein Lächeln übrig. „Es gibt nichts Hässlicheres als eine erstarrte Rechtgläubigkeit ohne Verständnis und ohne Mitgefühl.“ (37)

Die dritte und vierte Stufe spielte sich in der Musik und im Kulturleben ab. Künstler wurden zu Idealisten, die kein Ideal finden konnten (41). Sie sind Bilder personifizierter Verzweiflung (42). All diesen Stufen gemeinsam war das zugrunde liegende Konzept eines zweigeteilten Erkenntnisfeldes (46). Der Realismus des Christentums bietet auf diese Verzweiflung eine echte Antwort. Ohne Wahrheit gibt es keine Hoffnung und ohne ausreichende Grundlage keine Wahrheit. Wenn Christen jedoch das antithetische Denken aufgaben, hätten sie nichts mehr zu sagen. Schaeffer erkannte mit prophetischem Scharfblick: „Wenn wir nicht zeigen, dass wir die Wahrheit auch da ernst nehmen, wo sie uns etwas kostet, stossen wir die nächste Generation in den dialektischen Strudel, der uns umgibt.“ (50) Ich behaupte, dass sich in den letzten 20 Jahren genau in einem grossen Teil des evangelikalen Lagers genau diese Entwicklung vollzogen hat.

Zweiter Teil: Die Beziehung der modernen Theologie zu diesem intellektuellen Klima

Die sog. „liberale“ Theologie (fünfte und letzte Stufe) hatte den Wahrheitsbegriff ebenfalls zweigeteilt. Die religiöse Wahrheit war völlig von der Naturwissenschaft auf der einen und der Geschichtswissenschaft auf der anderen Seite losgelöst (58). Eine lebendige Orthodoxie befasst sich deshalb mit dem Verhältnis des ganzen Menschen zu Gott, inklusive Vernunft und Intellekt, und ruft sie dahin zurück (63). Was für ein Unterschied zur modernen Theologie, die nichts zu bieten hat ausser einem Glauben wider alle Vernunft, ohne jeden Inhalt. Man kann ihn bezeugen, aber nicht darüber diskutieren (67).

Der Mensch wurde durch diese Zweiteilung und die daraus entstehende Hoffnungslosigkeit in eine unerträgliche Spannung geworfen. Er ist gezwungen, im täglichen Leben die Dichotomie aufzugeben (69). Es ist ihnen nicht möglich, in dem modernen Denksystem zu leben. Ein mögliches „Ventil“ bildete der neue Mystizismus. Der Mensch hofft auf Vereinigung mit dem unpersönlichen All. (Darum wechseln manche Menschen vom Naturalismus zum Pantheismus.) Der Mensch löst sich dabei von seinem Intellekt und verwirft ihn (82). In der Theologie wurde das Dilemma über eine „Gott ist tot“-Doktrin gelöst. Die Worte der Bibel sind bereits eine Auslegung des Unerkennbaren, das einmal geschehen ist (91).

Im dritten Teil des Buches stellt Schaeffer die Frage: Was ist der Unterschied zwischen der modernen Theologie und dem historischen Christentum?

Die biblische Antwort „gründet sich auf den Ursprung aller Dinge und lautet, dass allem Sein Persönlichkeit zugrunde liegt“ (96). Wirkliche Liebe und wirkliche Kommunikation gründet in der Dreieinigkeit. Anders ausgedrückt: Liebe und Fürsorge sind nur dann sinnvoll, wenn Persönlichkeit einen wirklichen Inhalt hat (100). Gott hat uns in der Form sprachlicher Aussagen die Wahrheit über sich selbst und die Wahrheit über den Menschen, die Geschichte und die Welt mitgeteilt. (103) Wie ist das gemeint?

Wenn wir behaupten, Gott habe wahre Aussagen gemacht, so heisst das nicht, seine Aussagen wären erschöpfend. … Weil der Mensch begrenzt ist, hat er in der ihn umgebenden Welt keinen ausreichenden Bezugspunkt, wenn er ausschliesslich und autonom von sich selbst ausgeht; er braucht als ein bestimmtes Grundwissen. (103)

Schaeffer führt dann sein Modell unendlich/persönlich ein. Für ein erschöpfendes Wissen müssten wir unendlich sein wie Gott (106). Wir sind endlich, Gott ist unendlich, und doch können wir seine Aussagen wirklich verstehen; das ist möglich, weil Gott uns Persönlichkeit gegeben hat (108). Hier spielt das Konzept der Liebe hinein, das im Wesen des ewigen, dreieinigen Gottes wurzelt. Ein weiteres Dilemma des Menschen kann so beschrieben werden: Er ist zu grossartigen Taten fähig und kann zugleichin die tiefsten Tiefen von Grausamkeit und Tragik versinken. Das Grundproblem kann nicht adressiert werden, weil Schuld in Schuldgefühle umdefiniert wird (113). „Sie kennen keine letztgültige Antithese zwischen gut und böse, also gibt es keine wirkliche moralische Schuld; dann aber ist es sinnlos, von Rechtfertigung als einer radikalen Veränderung des Verhältnisses zu Gott zu reden.“ (114) „Weil der Mensch dem Gesetzgeber des Universums gegenüber schuldig ist, indem er seinem Charakter zuwiderhandelt, hat seine Sünde Konsequenzen und ist er selbst in einer beeinflussbaren Geschichte moralisch verantwortlich.“ (117) Die biblische Rechtfertigung findet den Ausweg aus dem Dilemma, indem sie weder die absolute Heiligkeit aufgibt noch die Bedeutsamkeit des Menschen verletzt. Für den Christ bedeutet dies: Er kann mit ganzem Herzen das Übel in der Welt bekämpfen; er kann das Böse hassen und dabei wissen, dass auch Gott es hasst – und zwar so sehr, dass er Christus dafür sterben liess! Das ist eine tragfähige Grundlage für die Sozialethik.

Vierter Teil: Die Verkündigung der historischen christlichen Botschaft 

Wie soll die christliche Botschaft im modernen Kontext kommuniziert werden? Dieser fünfte Teil ist mir in vielen Gesprächen mit Nichtchristen eine unschätzbare Hilfe gewesen. Zunächst ist wichtig zu wissen: Kein Nichtchrist kann seine Denkvoraussetzungen konsequent ausleben (135). Wir müssen also zuerst liebevoll den Punkt der Inkonsequenz finden und aufdecken (136). Wo widerspricht die Wirklichkeit der objektiven, von Gott geschaffenen Welt den Denkvoraussetzungen (138)? Viele Menschen haben diesen Spannungspunkt noch nicht erkannt. Dann geht es darum, die logischen Konsequenzen der Denkvoraussetzungen vor Augen zu führen. Dies ist weder ein nettes Spielchen noch ein intellektueller Ringkampf (141)! Es geht darum, das Schutzdach, mit dem sich der andere gegen die reale Welt absichert, zu entfernen (143). Bevor wir dem anderen dann Gottes Antwort auf sein Dilemma mitteilen können, braucht es die dreifache Klärung über wirkliche Wahrheit, wirkliche Schuld und wirkliche Geschichte (142). Das Evangelium stützte Schaeffer auf vier Fragen ab (152):

  1. Glauben Sie, dass Gott existiert, dass er ein persönlicher Gott ist und dass Jesus Christus Gott ist – wobei wir festhalten, dass wir nicht von dem Wort oder Begriff ‚Gott‘ sprechen, sondern von dem unendlich-persönlichen Gott, der wirklich da ist?
  2. Erkennen Sie, dass Sie diesem Gott gegenüber schuldig sind – wobei wir nicht von Schuldgefühlen sprechen, sondern von wirklicher moralischer Schuld?
  3. Glauben Sie, dass Jesus Christus in Raum, Zeit und Geschichte am Kreuz gestorben ist und durch seinen Tod ein völlig ausreichendes Sühnewerk vollbracht und die Strafe Gottes für die Sünden auf sich genommen hat?
  4. Haben Sie sich aufgrund der Verheissung Gottes in der Bibel, seiner schriftlichen Mitteilung an uns, in diesem Christus als Ihrem persönlichen Heiland geborgen – ohne sich auf irgend etwas zu stützen,  was Sie selbst je getan haben oder je tun werden?

Fünfter und sechster Teil: Die Vorarbeit zur Verkündigung und die Rolle der christlichen Gemeinde

Dieses Vorgehen möchte Schaeffer keineswegs statisch verstanden haben. Er legt es dem Leser ans Herz: „Apologetik muss durchdacht werden und sich im Hin und Her des lebendigen Kontaktes mit der jetzigen Generation bewegen.“ (157) Auch ist es ihm wichtig, dass geistliche Erfahrung „weder lediglich eine emotionale“ noch eine inhaltslose Erfahrung ist (161). Es ist Aufgabe der Gemeinde, Gottes Wesen existenziell zu demonstrieren (172). „Wenn unsere Verkündigung sich nicht klar auf der Antithese gründet, werden viele das Evangelium nur im Rahmen ihrer eigenen Interpretation verstehen und dazu in ihrer eigenen relativistischen Denkweise Stellung nehmen, unter anderem auch aufgrund einer Vorstellung von psychologischen Schuldgefühlen an der Stelle von wahrer moralischer Schuld vor dem heiligen, lebendigen Gott.“ (182)

Fazit

Das 1968 erschienene Buch gehört in das Büchergestell jedes Christen. Leider ist Schaeffer in der jüngeren Generation kaum mehr bekannt. Welchen Beitrag kann das Werk leisten? Es macht uns mit dem (spät)modernen Klima bekannt. Es stellt klar dar, worin sich die christliche Weltsicht von diesem Denkrahmen unterscheidet. Und es gibt einen praktikablen Weg vor, um die Botschaft adressatengerecht zu kommunizieren. Meine Empfehlung: In drei Wochen täglich 10 Seiten sorgfältig lesen; Inhalte mit den Nächsten besprechen und erproben!

Han­niel Stre­bel, www.hanniel.ch

4 Kommentare zu „Buchrezension: Gott ist keine Illusion“

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  2. Pingback: Francis Schaeffer – Das Evangelium in der heutigen Zeit verkündigen | Inara

  3. Vielen Dank! Der Artikel ist gründlich und sehr hilfreich, um mich über das Buch gut zu informieren!

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