“Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat und eins von ihnen verloren hat, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?” (Lukas 15,4)
Jeremias Gotthelf ist ein lesenswerter Autor – seine präzisen Beschreibungen des schweizerischen Lebens sind hilfreich, wenn man sich ein Bild vom Alltag der unterschiedlichsten “Durchschnitts-Bürger” Mitte des 19ten Jahrhunderts machen möchte. Gotthelf schreibt generell mit der Absicht schreibt Gutes dem Bösen gegenüberzustellen. Die Gute Tat gegen die Böse Tat; Das Gute Wort gegen das Böse Wort – Gotthelf ist konsequent im Fordern einer christlichen Weltanschauung, dadurch behalten seine Werke selbst bei scharfen Kritikern an Wert! Ein besonderes Beispiel dafür ist Gotthelfs Erzählung “Die Schwarze Spinne”. In einer sehr komplexen Erzählstruktur wird die Sage von einem Tauschhandel in ärgste Enge geschriebener Bauern geschildert, die diese mit dem Teufel schließen. Sie sollen dem Teufel ein “ungetauft Kind” übergeben für einen Handel, der sie vor großer Bedrängnis ihres gierigen Fürsten bewahrt.
Ich möchte auf einen besonderen Abschnitt von “Die Schwarze Spinne” hinweisen, der mir hilft Luk 15,4 zu verstehen:
“Als er (= der Teufel) aber nicht kam, als der Schreck vor ihm verging, als das alte Elend blieb und der Jammer der Leidenden lauter wurde, da stiegen allmählich die Gedanken auf, die den Menschen, der in der Not ist, so gerne um seine Seele bringen. Sie begannen zu rechnen, wieviel mehr wert sie alle seien als ein einzig ungetauft Kind, sie vergassen immer mehr, dass die Schuld an einer Seele tausendmal schwerer wiege als die Rettung von tausend und abermal
tausend Menschenleben.”
Ich denke das Gotthelf mit der schwarzen Spinne einen wichtigen Aspekt ausarbeitet, denn wir in den drei “Verloren-Gefunden” Geschichten aus Lukas 15 aus dem Blick verlieren: Der Hirte reduziert die Versorgung der 99 Schafe, um das eine Verlorene zu retten – die Frau hat den Blick nur noch auf den einen verlorenen Groschen, nicht für die neun vorhandenen – und der liebende Vater ist mit seinen Gedanken immer bei seinem jüngeren Sohn!
Genau das kann sich furchtbar unfair anfühlen; das ist uns als Familie in den letzten Wochen schmerzlich bewusst geworden: unser jüngstes Kind verbrachte wochenlang auf der Intensivstation und plötzlich lief alles andere auf “Sparflamme”. Die Gesunden mussten mit der Minimalversorgung vorlieb nehmen, z.B. wurden nahezu sämtliche Unternehmungen gestrichen, damit Kraft und Zeit für das schwächste Glied der Kette bleibt. Und ähnlich wie bei den Bauern aus Gotthelf Novelle tritt irgendwann an einen die Versuchung heran, ob das so eigentlich korrekt ist! Doch Gotthelf hat genauso recht wie Lukas 15: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken! Oder mit den Worten von Lukas 15,2: “Dieser nimmt die Sünder an”.