Es war einmal …

Bildquelle: excurspb.ru

Wirklich, ich muss zugeben, ich liebe Märchen. Schon als Kind und Teenager (damals hielt ich das vor meinen Freunden geheim) war ich immer auf der Suche nach spannendem Lesematerial. Möglicherweise hat es mit meiner Herkunft zu tun, denn dadurch, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat war, hat jede Kultur ihre Sagen und Märchen mitgebracht. Sehr viele dieser Märchen sind natürlich bloßes Unterhaltungsmaterial. Zumeist wird dargestellt, wie einer durch Beharrlichkeit, Geschicklichkeit und ein Maß an Witz zu Erfolg kommt. Neben diesen oberflächlichen Erzählungen übersieht man aber die wahren Perlen dieser volkstümlichen Literatur. Ich möchte dies an drei Beispielen illustrieren.

Das Aschenputtel

Die gesamte Geschichte ist natürlich überaus kitschig und trivial. Das arme Stieftöchterlein bekommt am Schluss den Prinzen. Leider ist das wahre Leben oftmals nicht so tröstlich. Aber ich möchte unseren Augenmerk auf eine besondere Stelle lenken. Die Stiefmutter will verhindern, dass Aschenputtel zum Fest des König kommen kann und erteilt diesem eine Sisyphus-Aufgabe: Linsen aus der Asche zu lesen. Die ganze Niedertracht der Schwestern wird offensichtlich. Aschenputtels Arbeit hat im Grunde keinen Wert. Auch nach mehreren Stunden Arbeit wird sie nur einige Hand voll Linsen aussortiert haben, die man auf dem Markt für einige Pfennig erwerben könnte. Das heißt Aschenputtels Arbeit und Taten hatten für die Stiefmutter und Co. keine Bedeutung und das sollte diese auch ruhig zu spüren bekommen. Immer wieder sehe ich solche Situationen im Alltag. Da werden Stunden und Tage investiert, um einige Euros zu sparen. Stundenlang sucht man nach dem Schnäppchen auf ebay und Co. Da hätte man auch gleich Linsen sortieren können.

Wie schon angedeutet, die Qualität der Märchen ist sehr unterschiedlich. Während man in Dornröschen noch eine Botschaft erkennen kann (“Man soll die Liebe nicht vor der Zeit wecken”, vergleiche dazu auch Hoh.2,7), ist mir dies bei Erzählungen wie Hänsel & Gretel nicht wirklich möglich. Auch sehe ich in den arabischen Legenden wie Alladin, Sindbad usw. kaum einen Lehrwert (tatsächlich ist 1000 und eine Nacht wohl vor allem eine erotische Geschichte). Bedenken wir jedoch, dass die Brüder Grimm, ihre Werke als einen sprachwissenschaftlichen Beitrag gesammelt haben. Neben diesen im engeren Sinne klassischen Werken sind vor allem die Märchen von Hans Christian Andersen (Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern) und Oscar Wilde (Der glückliche Prinz) Meisterwerke der Literatur.

Der Rattenfänger von Hameln

Eine sehr alte aber auch sehr bekannte Sage ist die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln. Eine Rattenplage in der Stadt Hameln kann nur mit Hilfe eines geschickten Künstlers gebändigt werden. Doch die Stadt blieb ihren Dank schuldig. Der Retter lässt mit der Rache nicht lange auf sich warten und statt Ratten wurden bei seinem nächsten Erscheinen in der Stadt die Kinder betört, welche er zum Tor hinaus führte. Man hat sie darnach nie mehr wieder gesehen.

Ich biete meine Interpretation an: Besonders in schwierigen Zeiten ist guter Rat teuer und gelegentlich ist dieser auch zu finden. Plötzlich kann das ein oder andere Problem gelöst werden, weil ein hoher Geist (ein begabter Pfeifenspieler) eine neue Idee hat. Doch schmeckt alter Wein besser, und man ist nicht bereit sich neuen Gedanken und Praktiken zu öffnen. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Generationen unwiederbringlich miteinander entzweit sind. Noch nie erlebt, wie der Rattenfänger in unserer Gesellschaft umhergeht? Ich denke, regelmäßig. Ich habe neben diesem Märchen noch keine bessere Darstellung gefunden, um Generationenkonflikte zu illustrieren (wie wir sie z. B. derzeit in russlanddeutschen Gemeinden nur zu oft auffinden).

Das Märchen vom Fischer und dem Fischlein

Zuletzt möchte ich noch ein russisches Märchen vorstellen. Der große Nationaldichter Alexander S. Puschkin hat dieses verfasst. Er verfasste dieses Märchen in Reimform, wodurch natürlich bei einer Übersetzung einiges an seiner Schönheit verloren geht, dennoch lässt sich diese Übersetzung auf deutsch ganz gut lesen: hier. Der Inhalt kurz wiedergegeben: Einem überaus armen Fischer gelingt ein glücklicher Fang: ein goldenes Fischlein. Das Fischlein bittet um Freiheit und ist dafür bereit, dem Fischer einen Wunsch zu erfüllen. In seiner glücklichen Einfalt lehnt der Fischer ab. Jedoch nur so lange, bis seine Frau davon Wind bekommt. Diese kann nicht verstehen warum er keinen Wunsch geäußert hat. Also wird der alte Mann auf der Suche nach dem Fischlein geschickt, um die Wünsche der Alten vorzutragen. Zuerst ist dies nur ein neuer Trog, doch bald schon ein neues Haus, schließlich gar Reichtum und große Macht.  Doch damit nicht genug, die Alte wird närrisch, und möchte “Herrscherin des Meeres sein”, so dass sogar das goldene Fischlein ihr dienen soll. Die Reaktion des Fischleins beendet den Wahnsinn:

Nicht ein Wort sprach das goldene Fischlein,
mit dem Schwanze nur schlug es das Wasser
und tauchte hinab in die Tiefe.
Lange harrte der Alte auf Antwort,
doch vergebens. Da ging er zur Alten.
Sieh – vor ihm hockt die Erdhütte wieder,
auf der Schwelle sitzt seine Alte,
und vor ihr liegt der Trog, der geborst’ne.

Die Lehre dieses Märchens ist offensichtlich: Die Gier des Menschen ist grenzenlos und seine Lüste werden nimmer satt.

Zu guter Letzt möchte ich erwähnen, dass z. B. Martin Luther ein großer Fan von Fabeln war. Er übersetzte einige der Fabeln Äsops ins Deutsche. Wer Interesse an Fabeln hat, dem seien an dieser Stelle die Fabeln des russischen Dichters Iwan A. Krylow empfohlen. Diese findet man z.B. in Projekt Guttenberg. Eine Fabel von Krylow zum Schluss:

Der Hecht und der Kater

Schlimm, wenn der Schuster sich mit Kuchenbacken
und der Konditor sich mit Stiefelnähn befaßt;
es wird nichts draus, wie sehr sie auch sich placken
in blinder Hast.
Denn das lehrt die Erfahrung,
dass, wer einmal ein fremdes Handwerk treibt,
gar eigensinnig bleibt
bei seiner törichten Gebarung.
Er richtet lieber das Geschäft zugrunde
und macht sich selber zum Gespötte,
als dass er sich zu rechter Stunde
bei klugen Leuten Rat geholet hätte.

Einst wollte der gefräß’ge Hecht
es wie die Katzen machen;
ich weiß nicht recht,
ob Neid der Böse in ihm weckte,
ob ihm die Fischkost nicht mehr schmeckte,
genug er bat – ihr werdet lachen –
den Kater, dass er ihn mitnehme auf die Jagd,
zum Mäusefang in Vorratshallen. –
»Doch weißt du, Lieber, auch genau, wie man das macht?«
fragt ihn der Kater. »Gib wohl acht,
du könntest leicht in Schande fallen.
Drum sei nicht dreister,
als klug ist, denn das Sprichwort sagt:
Ein jedes Ding will seinen Meister!« –
»Da sorge nicht, Gevatterchen, was Mäuse!

Wir haben Barsche schon gefangen.« –
»Das ist was andres, komm!« Sie sind gegangen.
Der Kater fängt sich leckre Schmäuse,
dann will er doch auch nach dem Hechte sehn.
Doch der liegt da, halbtot, das Maul ist offen,
und oh, was ist geschehn?
Die Ratten haben seinen Schwanz verzehrt.
Der Kater steht betroffen
und denkt, der Hecht hat selber sich betört!
Dann schleppt er ihn für tot in seinen Teich zurück.
Der Hecht lebt auf – er hatte doch noch Glück.
Nun aber, Hecht, nimm dir’s zur Lehre,
dich künftig nicht herauszuwagen
aus deiner Sphäre
und nimmer Mäusen nachzujagen!

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